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Irak und Syrien: Leben im "Islamischen Staat"

Foto: AFP/ Welayat Salahuddin

Irak und Syrien So regiert der "Islamische Staat"

Der syrische Journalist Hassan Hassan hat über 80 IS-Mitglieder interviewt und erklärt nun, wie die Terrorgruppe in ihren eroberten Gebieten regiert. Sie verhält sich wie ein Staat - Spitzelnetz inklusive.

Hassan Hassan stammt aus Ostsyrien, einer Region, in der heute der "Islamische Staat" (IS) herrscht. Nachdem die Dschihadisten seine Heimat erobert hatten, schlossen sich ein paar Bekannte des Journalisten der Terrororganisation an.

"Wie kann es sein, dass Leute zum IS wechseln, die bisher völlig unreligiös waren und hochgebildet sind?", fragte sich Hassan. Zusammen mit dem US-Journalisten Michael Weiss ging der 33-Jährige in den vergangenen Jahren dieser Frage nach und sprach allein 2014 mit über 80 IS-Mitgliedern. Die Einblicke in die Terrororganisation erscheinen im Februar als englischsprachiges Buch ("ISIS: Inside the Army of Terror").

Den Kontakt zum IS stellte Hassan nach dem Schneeballprinzip her: Er fing mit seinen Bekannten an und wurde von ihnen an andere IS-Anhänger weitergereicht. Zudem hatte er gute Verbindungen durch seine Arbeit: Hassan berichtet bereits seit 2011 über den Konflikt in seinem Heimatland.

Die IS-Kämpfer, ihre brutalen Feldzüge und grauenhaften Propagandavideos sind ein Aspekt der Organisation, über den viel berichtet wird. Doch gleichzeitig funktioniert der IS in den eroberten Gebieten wie ein Staat. Wie ihm das gelingt, beschreibt Hassan SPIEGEL ONLINE.

  • Verwaltung: "Die Einheimischen übernehmen meist zivile Aufgaben. Sie arbeiten als Stadtverwalter oder Prediger", sagt Hassan. "Der IS zahlt ihnen ein viel höheres Gehalt als zuvor der syrische Staat." Diesen Überläufern vertraue der IS allerdings nur begrenzt: "Sie gelten nicht als vollwertige Mitglieder, sondern nur als Unterstützer. Sie stehen nicht im Kontakt mit dem harten Kern des IS", sagt Hassan. Die Organisation habe aus den Fehlern ihres Vorläufers, der irakischen al-Qaida, gelernt: "Der IS ist sehr viel stärker lokal verankert. In fast jedem Stamm hat er Verbündete gewonnen", sagt Hassan. Ähnlich wie die Regime von Baschar al-Assad und Saddam Hussein weite der IS zudem seinen Einfluss aus, indem er verschiedene Gruppen und Stämme gegeneinander ausspiele.

  • Staatsleistungen: "Der IS ist kein Sozialstaat", sagt Hassan. "Er liefert selbst auch keine Dienstleistungen. Er verhält sich eher wie ein Projektmanager und verwaltet vorhandene Ressourcen." Wasser und Strom in den von den Dschihadisten kontrollierten Gebieten kommen von der syrischen und irakischen Regierung. "Aber der IS kassiert das Geld dafür ein", sagt Hassan. Der IS wiederum bezahle dann die syrischen und irakischen Lieferanten über inoffizielle dunkle Kanäle zurück. Die Regierungen wissen davon nicht unbedingt. Syrien und Irak sind für Korruption und mafiöse Strukturen berüchtigt.

  • Führung: "Der IS ist extrem dezentralisiert", sagt Hassan. So wüssten etwa Kommandeure in Syrien nicht, was Kommandeure im Nordirak planten. Ein Milizenführer habe keine Kenntnis darüber, was der IS-Geheimdienst mache. Die Mitglieder des Schura-Rats, der IS-Führung, seien zwar namentlich bekannt - die meisten sind Ex-Mitglieder von Saddam Husseins Sicherheitsapparat. Doch kaum jemand stehe mit ihnen in direktem Kontakt, nicht einmal regionale IS-Befehlshaber. Durch diese Netzwerkstruktur könne der IS militärische Niederlagen gut wegstecken. "Für die Kämpfer, die getötet werden, kommen neue nach", sagt Hassan.

  • Sicherheitsapparat: "Die IS-Gebiete sind noch immer umkämpft", sagt Hassan. Um die Macht zu konsolidieren, hat die Gruppe einen Sicherheitsapparat nach syrischem und irakischem Vorbild aufgebaut. "Es gibt rivalisierende Geheimdienste, die sich gegenseitig in Schach halten", sagt Hassan. Gleichzeitig ist ihre Aufgabe, mögliche Gefährder aufzuspüren und zu beseitigen. "Viele IS-Mitglieder haben die nötige Erfahrung: Sie waren vorher im irakischen oder syrischen Geheimdienst", sagt Hassan. In Gegenden, die der IS noch nicht erobert habe, versuche die Gruppe, Schläferzellen aufzubauen und so die Gebiete schrittweise zu infiltrieren. Selbst in den Nachbarländern Jordanien und der Türkei habe der IS ein Spitzelnetz, um vor möglichen Gefahren rechtzeitig gewarnt zu werden.

  • Staatsreligion: "Der IS hat seine radikale Ideologie zur Staatsreligion erhoben", sagt Hassan. Auch sie sei ein Instrument, um die Macht zu zementieren. "Anders als andere Islamisten hat der IS mit dem Kalifat ein klares, konkretes Projekt, das jeder sehen kann." Die Dschihadisten propagieren die Alleinherrschaft der Sunniten. Dieses Versprechen ist für viele Glaubensbrüder im Irak und in Syrien verlockend: In beiden Ländern tobt seit Jahren konfessionell motivierte Gewalt. Die Regierungen in Bagdad und Damaskus werden als schiitische Konfliktparteien wahrgenommen, die von Iran unterstützt werden. Die schiitischen Milizen im Irak und die Pro-Assad-Truppen in Syrien stehen dem IS an Brutalität in nichts nach.

Fazit: Die Herrschaft des IS funktioniert, weil er kaum neue Strukturen aufbaut, sondern vor allem bestehende übernimmt. Daher gelingt es dem IS bisher nur, sich in mehrheitlich sunnitischen Regionen zu verankern: Anderswo fehlen ihm die lokalen Unterstützer, auf die er angewiesen ist.

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