Umstrittenes Israel-Gedicht Günter Grass beklagt "Gleichschaltung der Meinung"

Günter Grass (im Oktober 2011): "Alte Klischees bemüht"
Foto: MARCO-URBAN.DEHamburg/Teheran - Günter Grass hat einen Tag nach der Veröffentlichung seines Israel-kritischen Gedichts Stellung bezogen. Der Literaturnobelpreisträger fühlt sich von den Kritikern missverstanden und sieht eine Kampagne gegen sich. "Der Tenor durchgehend ist, sich bloß nicht auf den Inhalt des Gedichtes einlassen, sondern eine Kampagne gegen mich zu führen und zu behaupten, mein Ruf sei für alle Zeit geschädigt", sagte Grass in einem Interview des Norddeutschen Rundfunks (NDR) am Donnerstag.
Grass hatte am Mittwoch den Text "Was gesagt sein muss" als Gedicht veröffentlicht. Darin heißt es: "Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden." Dies hatte eine Welle der Empörung gegen den 84-jährigen Autor ausgelöst.
Grass sagte dem NDR: "Es werden alte Klischees bemüht. Und es ist zum Teil ja auch verletzend. Es wird sofort, was ja auch zu vermuten war, mit dem Begriff Antisemitismus gearbeitet." Weiter sagte der Schriftsteller: "Es ist mir aufgefallen, dass in einem demokratischen Land, in dem Pressefreiheit herrscht, eine gewisse Gleichschaltung der Meinung im Vordergrund steht und eine Weigerung, auf den Inhalt, die Fragestellungen, die ich hier anführe, überhaupt einzugehen."
"In einer der Springer-Zeitungen stand: 'der ewige Antisemit', das ist eine Umkehrung des 'ewigen Juden'. Das ist schon verletzend und ist demokratischer Presse nicht würdig", beklagte der Nobelpreisträger. Zum Vorwurf des Antisemitismus sagte Grass, er empfehle seinen Kritikern einen "Blick in meine Bücher, in denen ich immer wieder den deutschen Antisemitismus kritisiert habe".
Grass nennt zwei Auslöser für das Gedicht
Der Nobelpreisträger nannte in dem knapp zehnminütigen Interview zwei Ereignisse, die ihm zum Verfassen des Gedichtes gebracht hätten. Zum einen sei es der Besuch von Israels Premier Benjamin Netanjahu in Washington Anfang März gewesen und dessen Position, dass Israel allein über einen möglichen Angriff gegen Iran entscheide. "Das wurde Netanjahu zugestanden", sagte Grass. "Das ist im Grunde die Aufkündigung eines diplomatischen Verhaltens, das uns in Europa über sechs Jahrzehnten den Frieden erhalten hat. Solange gesprochen wird, wird nicht geschossen."
Der andere Auslöser sei die Lieferung eines weiteren U-Boots von Deutschland an Israel gewesen, mit dem laut Grass auch atomare Mittelstreckenraketen abgeschossen werden könnten. Das empfinde er als eine Belastung. Würde Israel den Erstschlag gegen Iran ausführen, dann sei das in dieser "kriegsbereiten Region gemeingefährlich", so der Literat.
Auf die Frage, warum er sich auf Kritik an Israel konzentriere und den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad lediglich als "Maulhelden" bezeichnet, sagte Grass, die schlimmen Äußerungen Ahmadinedschads seien gemeinhin bekannt. Als Dichter wolle er aber über das sprechen, über was sonst nicht geredet werde, namentlich die Rolle Israels im Konflikt.
Grass trug das umstrittene Gedicht auch vor laufender Kamera vor. Zu sehen ist es bereits in der Mediathek der ARD, auch in den "Tagesthemen" soll es ausgestrahlt werden. Außerdem gab Grass Kulturmagazinen von ZDF und 3sat ein Interview.
Im Gespräch mit der 3sat-Kulturzeit sagte Grass, er wolle seine Kritik an der israelischen Regierung "auf keinen Fall widerrufen". Doch er räumte einen Fehler ein. Es wäre besser gewesen, nicht von "Israel" generell zu sprechen, sondern von der "derzeitigen Regierung Israels". Die Lieferung eines sechsten U-Boots an Jerusalem durch Deutschland sei "eine falsche Form der Wiedergutmachung", bekräftigte Grass.
Israels Premier Netanjahu kritisiert den Nobelpreisträger
Am Mittwoch hatte Grass über seine Sekretärin noch verlauten lassen, er werde keine Stellung zum Gedicht beziehen. "Herr Grass hat in seinem Gedicht gesagt, was er zu sagen hat, und wird sich wegen gesundheitlicher Probleme bis auf weiteres nicht weiter dazu äußern", sagte seine persönliche Sekretärin Hilke Ohsoling am Mittwoch.
Doch weltweit hagelte es auch am Donnerstag weiter Kritik an Grass' Gedicht. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu reagierte mit scharfen Worten auf die Zeilen des Literaturnobelpreisträgers. "Die schändliche Gleichstellung Israels mit Iran, einem Regime, das den Holocaust leugnet und damit droht, Israel zu vernichten, sagt wenig über Israel, aber viel über Herrn Grass aus", hieß es in einer Mitteilung seines Büros am Donnerstag. Grass habe sechs Jahrzehnte verschwiegen, dass er Mitglied der Waffen-SS war. Deshalb sei es jetzt nicht überraschend, dass er den einzigen jüdischen Staat zur größten Gefahr des Weltfriedens erkläre, teilte Netanjahu weiter mit.
Iran lobt Grass für seinen Mut
Lob für den deutschen Dichter kam hingegen aus Iran. Der iranische Sender Press TV berichtete am Donnerstag, dass "nie zuvor im Nachkriegs-Deutschland ein prominenter Intellektueller Israel auf so mutige Weise angegriffen hat wie Günter Grass mit seinem umstrittenen Gedicht". Bildlich gesprochen, heißt es in dem Bericht weiter, sei Grass "ein tödlicher lyrischer Schlag gegen Israel gelungen".
In westlichen Medien löste Grass' Gedicht vor allem scharfe Kritik aus. Kritiker nannten den Text am Donnerstag Ausdruck eines "politisch korrekten Antisemitismus" sowie ein "Dokument der Rache".
Der israelische Historiker Tom Segev kritisierte den Dichter scharf. Er habe den Eindruck, dass Grass vor allem von seinem eigenen langen Schweigen über seine Vergangenheit bei der Waffen-SS getrieben sei, sagte Segev SPIEGEL ONLINE.
Einer der wenigen Intellektuellen, die Grass in Schutz nahmen, war der Präsident der Akademie der Künste, Klaus Staeck. "Man muss ein klares Wort sagen dürfen, ohne als Israel-Feind denunziert zu werden", sagte Staeck der "Mitteldeutschen Zeitung".
Grass hatte das umstrittene Gedicht am Mittwoch unter anderem in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht. Sich selbst bezichtigte der Autor, zu lange geschwiegen zu haben, und fuhr fort: "Ich schweige nicht mehr."