Israel Kulturkampf der Ultrafrommen

Militante Ultrareligiöse fordern Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit. Doch Tausende Israelis wehren sich gegen deren wachsenden Einfluss und die zunehmende Diskriminierung von Frauen. Es geht um mehr als Gleichberechtigung - sie kämpfen um den Charakter ihres Staates.
Von Lena Greiner und Gil Yaron
Beit Schemesch: Ein Ultraorthodoxer (links) im Streit mit einem säkularen Israeli

Beit Schemesch: Ein Ultraorthodoxer (links) im Streit mit einem säkularen Israeli

Foto: STRINGER/ REUTERS

Es war nicht das erste Mal, dass Doron Matalon auf dem Weg nach Hause beschimpft wurde. Weil sie sich nicht an das ungeschriebene Gesetz der ultraorthodoxen Juden halten will, wonach Frauen im Bus hinten sitzen müssen. Oder andere Bürgersteige als Männer benutzen sollen.

Doch dieses Mal reichte es der jungen israelischen Soldatin. Sie war in der Nähe ihres Militärstützpunktes in den Linienbus gestiegen und schon fast an ihrem Ziel, als ein 45-Jähriger Mann sie anpöbelte, sie solle in den hinteren Busteil gehen. Matalon weigerte sich, wie sie in der Zeitung "Haaretz" sagte, aus Prinzip, und weil es dort stickig und eklig sei. Da begann der militant Religiöse die junge Frau als Hure zu beschimpfen, andere Männer stimmten mit ein. Der Bus wurde gestoppt, die Polizei gerufen.

Der Pöbler, ein Vater von elf Kindern, wurde festgenommen und vom Haftrichter gegen eine Kaution von umgerechnet 4000 Euro wieder auf freien Fuß gesetzt. Bis zu seinem Gerichtstermin darf er nicht mehr mit dem Bus fahren.

Der Vorfall zeigt den wachsenden Riss, der durch die israelische Gesellschaft geht: Ungefähr zehn Prozent der Sechs-Millionen-Bevölkerung sind ultraorthodox, ein Teil von ihnen ist extrem und militant. Den säkularen Israelis steht damit eine Minderheit ultrafrommer Juden gegenüber - klein, aber lautstark. Einzig vereint im Widerstand gegen die Palästinenser, könnten die Gruppen unterschiedlicher nicht sein: Während in Tel Aviv Körperkult und westliche Lebensweisen das Stadtbild bestimmen, wollen die Ultras an immer mehr Orten ihre Vorstellungen von Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit durchsetzen.

Am Donnerstag war zu diesem Zweck eine Kundgebung in Beit Schemesch geplant. Doch die Demo wurde abgesagt. Daraufhin randalierten die Ultrafrommen, zündeten Mülleimer an und warfen mit Steinen um sich. Die Stadt, 25 Autominuten von Jerusalem entfernt, war schon in den vergangenen Tagen zum Symbol für den Streit geworden. Nachdem dort der Schulweg für ein achtjähriges Mädchen, eine orthodoxe Jüdin, zu einem Spießrutenlauf wurde, weil sie aus Sicht der Radikalen nicht angemessen gekleidet war, demonstrierten am Dienstag Tausende Israelis . "Israel ist nicht Teheran", war auf ihren Schildern zu lesen. Israels Präsident Schimon Peres hatte die Öffentlichkeit aufgerufen, sich an der Protestaktion zu beteiligen.

In Jerusalem verschwinden Frauen aus dem Stadtbild

Auch in einigen Vierteln in Jerusalem werden fremde oder "unzüchtige" Frauen beschimpft, bespuckt und mit Steinen beworfen, wenn sie sich frei auf der Straße bewegen und keine langen Röcke oder Kopfbedeckungen tragen. Selbst religiöse Juden wehren sich jetzt dagegen: Der Rabbiner Uri Ayalon startete vor wenigen Wochen eine Medienkampagne, als er bemerkte, dass in Jerusalem inzwischen selbst sittsame Werbekampagnen umgestaltet und Frauen durch neutrale Gegenstände oder männlichen Models ersetzt werden.

"Es ist das erste Mal in der Geschichte des israelischen Staates, dass so etwas passiert", sagt Sergio DellaPergola, Professor für Demografie und Jüdische Zeitgeschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem SPIEGEL ONLINE. Premierminister Benjamin Netanjahu stellte klar, Israel werde derartige Belästigungen von Frauen nicht dulden. "Der öffentliche Raum muss für alle offen und sicher sein", sagte Netanjahu am Mittwoch.

Netanjahu steckt allerdings in einem Dilemma: Er braucht die Stimmen der Ultras für sein politisches Überleben. Religiöse Parteien wie die Schas-Partei stützen seine Koalition. "Die entscheidenden zehn Prozent", nennt DellaPergola die Extremreligiösen. Die geschützte Stellung der Ultraorthodoxen wurde bereits bei der Staatsgründung Israels festgelegt. Damit die frommen Juden einen säkularen Staat mittragen, sicherte ihnen der erste Ministerpräsident David Ben-Gurion weitgehende Privilegien zu: kein Militärdienst und weitreichende finanzielle Unterstützung vom Staat, damit sie nicht arbeiten müssen, sondern sich voll und ganz dem Bibelstudium widmen können.

Die Radikalen haben in der Politik so viel Einfluss wie noch nie

Experten erklären die jüngste Radikalisierung anhand zweier Ursachen. Der Rabbiner Uri Ayalon sieht die Ultraorthodoxie in einer Krise. "Internet, Arbeitsmarkt und Medien setzen die Jugend fremden Einflüssen aus, vor denen die Eltern sie abschirmen wollen. Ihre Schwäche macht sie militanter", so Ayalon. Mordechai Kremnitzer vom Israelischen Institut für Demokratie spricht hingegen vom Machtzuwachs der Orthodoxen, die im Durchschnitt dreimal so viele Kinder haben als andere Paare. Sie stellen zwar nur zehn Prozent der Bevölkerung, aber rund ein Viertel der Erstklässler. Dank dieser Demografie hätten sie in der Koalition von Netanjahu "so viel Einfluss wie noch nie", sagt Kremnitzer.

Ayalon und Kremnitzer sind sich einig, dass auch der Fortschritt in den Verhandlungen mit den Palästinensern und die Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen 2005 die Orthodoxen radikalisierten. Ihnen sei klar geworden, dass der wichtigste Programmpunkt ihrer Bewegung, nämlich die Besiedlung Groß-Israels, nicht mehr durchführbar sei. "Die Rückkehr zu einem vermeintlich authentischeren Judentum wurde zur Ersatzideologie. Die verschiedenen religiösen Strömungen ringen jetzt darum, wer puritanischer ist", sagen die Experten.

Netanjahu müsse klare Kante zeigen, sonst drohe mehr Gewalt und Aggression, fürchtet DellaPergola. Eine verschärfte Bestrafung für Diskriminierung von Frauen wurde bereits angekündigt. Doch Strafvollzug allein könne reiche nicht aus, sagt der israelische Polizeichef. Vielmehr müssten sich die Rabbiner geschlossen gegen die Radikalisierung aussprechen. Davon sei aber noch nichts zu sehen.

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