

Schadi, 31, graublaue Augen, hellbrauner Drei-Tage-Bart, hat sein Haus seit zwei Wochen kaum verlassen. Er hockt auf einem abgewetzten Ledersessel im Wohnzimmer, sein weißes T-Shirt spannt sich über den Bauchansatz. Vor ihm steht ein Glas mit süßem schwarzem Tee. Was er mit sich anfangen soll, weiß Schadi nicht so recht.
Normalerweise verdingt sich der Palästinenser als Fremdenführer oder verkauft den Touristen in Hebron bunte Schals. Doch nun bleiben selbst die letzten verbliebenen Besucher aus. Das Leben in der ganzen Stadt, im alten wie im neuen Teil, ist zum Erliegen gekommen. Wie Schadi hängen viele seiner Freunde arbeitslos zu Hause herum. Sie arbeiten normalerweise im Bau auf israelischen Siedlungen. Doch seit zwei Wochen können sie nicht mehr zur Arbeit. Hebron ist abgeriegelt und auch über andere Dörfer der Gegend wurde zeitweise Ausgangssperre verhängt.
Schwer bewaffnete israelische Soldaten patrouillieren durch die Stadt. Erblicken sie junge Männer wie Schadi, gehen sie in Stellung und wollen Papiere sehen.
Seit zwei Wochen tobt im Westjordanland ein Großeinsatz des israelischen Militärs: Tausende Häuser wurden bereits durchsucht, meist in nächtlichen Razzien. Über 300 Palästinenser, fast alle von ihnen Hamas-Sympathisanten, wurden festgenommen. Fünf Palästinenser sind bereits erschossen worden - "versehentlich", sagt Israels Premierminister Benjamin Netanjahu.
Auf den Straßen nach Hebron haben die israelischen Soldaten Checkpoints errichtet. Passanten werden kontrolliert, egal ob sie in "Zone A" unter palästinensischer Verwaltung oder "Zone C" unter israelischer Hoheit wollen.
Netanjahu bestraft kollektiv ein ganzes Volk
Kollektiv lässt Israels Premier ein ganzes Volk bestrafen. Er hat den Großeinsatz angeordnet, nachdem am 12. Juni drei israelische Teenager beim Trampen im Westjordanland verschwanden. Netanjahu bezichtigt die palästinensische Hamas, die Jungen entführt zu haben. Diese bestreitet den Vorwurf.
Mahmud Abbas, Präsident der Palästinenser, hat Jerusalem sein Mitgefühl ausgesprochen. Seine Sicherheitskräfte kooperieren bei der Suche. Damit zieht er sich den Ärger seiner Bürger zu. Denn die meisten Palästinenser sehen den Fall zynisch.
"Das ist doch alles eine Lüge. Es gibt keine Entführung, das ist alles nur israelische Politik", sagt Schadi. Er glaubt, dass Netanjahu den Fall instrumentalisiert, um einen Keil zu treiben zwischen die Hamas und Abbas' Fatah, nachdem die sich zum Ärger der israelischen Regierung gerade zusammenrauften.
Ärger mit Israel ist für viele hier nichts Neues. In Hebron geraten jüdische Siedler und Palästinenser täglich aneinander. In der Altstadt wird um Häuser gestritten. Dort liegt die Höhle der Patriarchen, das Grab Abrahams, Isaaks und Jakobs, ein Heiligtum von Juden, Christen wie Muslimen. Wenn man bei Schadi im Wohnzimmer sitzt, hört man den jüdischen Nachbarsjungen beim Basketballspiel, so nah sind sich die Konfliktparteien.
Die Palästinenser fühlen sich von Abbas im Stich gelassen
Bitter enttäuscht ist Schadi jedoch nur von Abbas. Am Sonntag hatte es in Ramallah bereits eine Demonstration gegen die Autonomiebehörde gegeben. Daraufhin schossen palästinensische Polizisten auf Palästinenser, für alle in den Fernsehnachrichten zu sehen. Es ist das Aufregerthema, das jeder Palästinenser sofort erwähnt.
"Wozu habt ihr Waffen?", schimpft Schadi über die Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde. "Israel macht uns Probleme, und ihr schießt auf uns!" Er redet sich in Rage, schimpft über die Korruption der Fatah-Bewegung und ihren autoritären Stil. Der Frust über Abbas gärt im Westjordanland schon länger. Wegen seiner Wutrede bittet Schadi denn auch, seinen Nachnamen nicht zu zitieren. Er hat Angst vor möglicher Bestrafung durch die Autonomiebehörde.
Ein paar Straßenecken weiter macht Said al-Awawi, 25, kurze schwarze Haare, gefälschtes Designer-T-Shirt, nach Abbas gefragt, nur eine Geste, die Erbrechen signalisiert. Er möchte den Namen nicht aussprechen und sagt nur: "Ich will einen Präsidenten, der stark ist, keinen Schwächling."
Awawi kommt gerade frisch aus dem Gefängnis. Während der Razzien wurde er für 24 Stunden festgehalten. Sein 17-jähriger Bruder ist noch in Haft. Wie lange, weiß keiner. Der Teenager sitzt in sogenannter Verwaltungshaft ohne Prozess. Said al-Awawi kann nicht so genau sagen, warum er einen Tag lang festgehalten wurde. "Keine Ahnung, ich glaube, es hat etwas mit den drei verschwunden Teenagern zu tun", sagt er. "Sie haben mich immer gefragt, wo sie sind." Awawi fügt hinzu, dass er schon häufig in Haft war. Meist wegen Steinwürfen. Stolz bezeichnet er sich als Unruhestifter.
Palästinensische Arbeiter bleiben weg
Die andere Seite: Bruce Brill, 66, lebt in einer Nachbarsiedlung und gibt bereitwillig Auskunft über die Gefühllage unter den Siedlern. "Die Stimmung bei uns ist angespannt, misstrauisch. Viele sind nervös und frustriert, dass die Jungs noch immer nicht gefunden wurden", sagt er. "Wir stehen alle hinter dem Vorgehen der Regierung." Von liberaler israelischer Seite wird der Einsatz heftig kritisiert.
Brill ist kein besonders extremer Siedler. Er sagt: "Ich höre Dinge wie 'wir sollten jeden Tag einen dieser Mörder erschießen, bis die Jungs zurückgebracht werden' - dafür bin ich nicht." Doch er wünscht sich, dass Palästinenser, die Israelis ermordet haben, in Zukunft zum Tode verurteilt werden. Niemals dürften sie wieder im Gefangenenaustausch freikommen. "Das begünstigt nur solche Entführungen."
Der Siedler steht vor einer Baustelle - ein Kindergarten soll auf dem Hügel entstehen. Doch alles ist in Verzug geraten, denn die palästinensischen Bauarbeiter durften während der Razzien ihre Dörfer nicht verlassen. "Meine Arbeiter haben eine Woche Arbeit verloren. Und wir reden nicht nur von den zehn, die ich beaufsichtige - wir reden hier bei uns von rund 5000 Arbeitern!", klagt Brill. "Das sind alles gute Männer, die haben so etwas nicht verdient."
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Israelische Soldaten nördlich von Hebron: Seit Tagen sucht die Armee nach den vermissten Jugendlichen.
Israelische Soldaten patrouillieren schwerbewaffnet in Hebron. Die palästinensischen alten Männer im Café schauen ihnen nach.
Treffen die Soldaten auf junge Palästinenser, müssen diese sich ausweisen können. Viele Einwohner empfinden die Kontrollen als Schikane.
Irgendwo in der Hügellandschaft zwischen Hebron und Bethlehem werden die drei verschwundenen jüdischen Teenager vermutet. Seit zwei Wochen durchkämmt die israelische Armee das Gelände, bisher erfolglos.
Schadi, 31, aus Hebron möchte unerkannt bleiben. "Ich habe keine Angst vor den Juden, aber vor der palästinensischen Regierung", sagt er. Von Israel erwartet er nicht mehr viel. Von der Palästinenserführung ist er enttäuscht und schimpft auf sie.
In Hebron tobt ein besonders erbittertes Ringen zwischen Siedlern und Palästinensern, Haus um Haus. Schadi kann von seinem Dach aus dem israelischen Nachbarn in den Hinterhof schauen. Ein Siedlerjunge dort spielt Basketball. Hebron ist auch berühmt für die Höhle der Patriarchen, dem Grab Abrahams, Isaaks und Jakobs. Es ist Juden, Christen und Muslimen heilig.
Selbst über den Dächern von Hebron herrscht Konfrontation. Auf dem Haus von Schadis Familie ist die palästinensische Flagge aufgesprüht. Die Nachbarn haben die israelische Fahne gehisst.
In der Altstadt von Hebron warten die Händler auf Kundschaft. Touristen lassen sich kaum noch blicken. Doch auch die Einheimischen bleiben aus. Nur wenige trauen sich während der Razzien auf die Straße.
Nadal al-Awawi, 48, wartet vergeblich auf Kundschaft. Normalerweise macht er am Tag zwischen 300 und 400 Euro Umsatz. Seit die Razzien begonnen haben, ist er froh, wenn es zehn Euro sind.
Said al-Awawi , 25, gilt als kleiner Unruhestifter. Immer wieder wurde er von der israelischen Armee verhaftet, zuletzt für 24 Stunden während der jüngsten Razzia. Sein 17-jähriger Bruder ist seit drei Tagen in Haft. Ob er nach ein paar Tagen oder erst Monaten wieder freikommt, weiß keiner.
Bruce Brill, 66, ist ein Siedler aus Kfar Eldad, was zur selben Regionalverwaltung gehört wie die Siedlung, aus der die drei Teenager stammen.
Auch in Bethlehem bleiben die Touristen und Pilger aus, nicht nur in den religiösen Stätten. Beim Banksy-Souvenirladen lässt sich keiner blicken. Der Künstler hat mehrere Graffiti auf die umstrittene Mauer, die Israel um das Westjordanland errichtet hat, gesprüht.
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