Israel Ultraorthodoxe wehren sich gegen Wehrdienst

Ultraorthodoxer Jude in Jerusalem: Streit über die Wehrdienst-Frage
Foto: BAZ RATNER/ REUTERSMehr als 30 Jahre lang hat Yehuda Ressler für diesen Augenblick gekämpft. Jetzt ist der pensionierte Rechtsanwalt "überglücklich, ja ekstatisch": Israels höchster Gerichtshof gab ihm in der Klage 6298/07 Recht, die Ressler 1981 eingereicht hatte. Sie sollte die Freistellung ultraorthodoxer Juden vom Militärdienst beenden. Sechs von neun Richtern kamen jetzt zu dem Ergebnis, dass das Gesetz tatsächlich gegen den Grundsatz der Gleichstellung verstößt - und fordern Änderungen.
"Ein himmelschreiendes historisches Unrecht kommt damit seinem Ende näher", sagt Ressler. Viele Israelis fühlen wie er. Das Urteil des Gerichts befasst sich mit einer der heikelsten und ältesten Streitfragen der israelischen Innenpolitik: Eigentlich muss jeder jüdische Israeli drei, jede jüdische Israelin zwei Jahre Wehrdienst leisten, danach zusätzlich bis zu 30 Tage Reservedienst bis zum 45. Lebensjahr. Doch seit der Staatsgründung 1948 gibt es eine große Ausnahme: Der erste Premier David Ben-Gurion enthob alle ultraorthodoxen Thoraschüler der Wehrpflicht.
"Diese Ungleichheit! Meine Enkel müssen bald in die Armee, und ultraorthodoxe Eltern schlafen weiter in Ruhe, weil ihre Kinder nicht dienen müssen und von meinen geschützt werden!", sagt Ressler.
"Es gibt tausende trauernde Eltern in Israel", sagt Eli Benschem, Vorsitzender der Organisation "Jad Labanim", die die Interessen der Hinterbliebenen von Israels rund 23.000 Gefallenen vertritt. Sie ist eine von insgesamt 40 Organisationen, die das Urteil gemeinsam mit Ressler einklagten: "Es ist völlig unhaltbar, dass so viele Männer und Frauen automatisch freigestellt wurden, während andere ihr Leben riskierten. Es geht um Gerechtigkeit: Man kann Rechte nur einfordern, wenn man auch seine Pflichten erfüllt. Außer der Bedrohung durch Iran ist diese Frage die größte Zerreißprobe Israels", sagt Benschem.
Ben-Gurion hatte viele Gründe, alle Ultraorthodoxen vor 64 Jahren freizustellen: Er meinte, auf die wenigen hundert Religiösen, die sich selber "Haredim" (Hebräisch: Gottesfürchtigen) nennen, verzichten zu können. Sie hatten keine militärische Ausbildung und identifizierten sich nicht mit der Ideologie des säkularen Staates. Man einigte sich darauf, dass diese kleine Elite die Erinnerung an die geistige Welt der Diaspora, die im Holocaust fast völlig zerstört worden war, am Leben halten sollte. Gläubige erhielten Stipendien, um die Heiligen Schriften zu studieren, während die Armee zum Schmelztiegel der israelischen Mehrheitsgesellschaft wurde.
"Das Urteil ist ein Meilenstein"
Doch mit den Jahren wurde aus der Elite ein gesellschaftliches Problem. Betraf die Freistellung 1948 gerade einmal 400 Personen, sind heute rund 70.000 Haredim automatisch vom Wehrdienst freigestellt. Während ihre Mitbürger an die Front gehen, sitzen Haredim dank des sogenannten Tal-Gesetzes, das vor zehn Jahren verabschiedet wurde, um die Freistellung endlich rechtlich zu regeln, in Thoraschulen und lesen heilige Bücher.
Das Tal-Gesetz, so beschlossen jetzt sechs der neun Richter, sei jedoch widerrechtlich, weil es dem Prinzip der Gleichheit widerspreche. Demnach dürfe die Knesset seine Gültigkeit am 1. August nicht mehr verlängern. Dann wäre die Regierung theoretisch dazu verpflichtet, Zigtausende Haredim einzuziehen. "Das Urteil ist ein Meilenstein!", freut Ressler sich.
"Völlig falsch", meint hingegen Schimon Breitkoff, Journalist bei der wichtigsten Nachrichten-Website der Haredim: "Dieses Urteil wird genau das Gegenteil von dem bewirken, was es beabsichtigt." Seitdem das Tal-Gesetz 2002 erlassen wurde, habe die Zahl wehrdienstleistender Haredim drastisch zugenommen. Offiziell dienen heute rund 2000 Ultraorthodoxe in der Armee. "Aber das Urteil ist eine Kriegserklärung", sagt Breitkoff. "Jetzt sucht niemand mehr nach einem Kompromiss, auf beiden Seiten kommen die Hardliner zu Wort." Je lauter extremistische Rabbiner nun gegen die Wehrpflicht wetterten "und je mehr sie sich als Opfer einer erbarmungslosen Staatsgewalt präsentieren können, desto leichter wird es für sie sein, Spendengelder für ihre Schulen zu bekommen."
Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak wollen bis zum Sommer eine Lösung "im Einvernehmen mit allen Sektoren der Gesellschaft" finden, doch aus dem orthodoxen Lager der Wehrdienstverweigerer kommen martialische Töne: "Eines muss klar sein: Die Thoraschüler werden unter allen Umständen in den Thoraschulen bleiben", schrieb Innenminister Eli Yischai, Vorsitzender der orthodoxen Schas-Partei, in der Parteizeitung. Das Urteil sei nur Teil einer Wahlkampagne, die politisches Kapital aus der Marginalisierung der Ultraorthodoxen schlagen wolle. Auch andere orthodoxe Koalitionspartner Netanjahus lehnen eine Aufhebung der Freistellung kategorisch ab.
Fahnenflucht ist in Israel strafbar, doch in den Jeschiwas, den Thoraschulen, hat im Augenblick niemand Sorge, dass am 1. August die Militärpolizei vor der Haustür stehen könnte: "Meine Eltern waren freigestellt, bevor es das Gesetz gab, und ich werde auch nie dienen müssen", sagt Haim Linden, ein 21 Jahre alter Jeshiwa-Student aus Jerusalem. "Meine Rabbiner sagten mir, dass ich Thora lernen und nicht zur Armee gehen soll, und niemand kann daran etwas ändern."
"Ich war von Anfang an gegen das Gesetz", sagt der 30 Jahre alte Aharon Schapira, der in Jerusalem jeden Tag zehn Stunden lang die Heiligen Schriften studiert. Thoraschüler hätten schließlich "in der gesamten Geschichte unseres Volkes in keiner Armee gedient und werden es auch jetzt nicht tun. Nichts wird sich ändern." Die Mehrheit verstünde nicht, dass gerade die wehrdienstverweigernden Haredim den Fortbestand Israels absicherten: "Überlegen Sie doch: Der Staat Israel mit seinen 7,5 Millionen Einwohnern hält seit Jahrzehnten den Angriffen Hunderter Millionen Araber stand. Warum funktioniert das, obwohl es scheinbar den Naturgesetzen widerspricht? Nur, weil wir für Israel beten und uns der Thora widmen!"
Die Ultraorthodoxen sehen den Wehrdienst als Gefahr für ihre Gemeinde
Bei Schapira erwecken die Drohungen säkularer Politiker, den Wehrdienst notfalls erzwingen zu wollen, nur Kampflust: "Ich freue mich schon darauf. Wir werden erhobenen Haupts für unsere Weltanschauung ins Gefängnis gehen, und Zehntausende werden Spalier stehen und uns applaudieren."
Den Kompromiss Baraks, der vorschlug, rund 2500 besonders begabte Thoraschüler könnten weiterhin freigestellt werden, nur die anderen müssten fortan dienen, lehnt Schapira ab: "Das ist Prinzipiensache." Der jüngere Linden hingegen ist nicht so absolut: "Ich bin ja nicht gegen die Armee, ich bete für die Soldaten. Aber mit 18 zum Militär - das ist zu früh. Zuerst muss der Charakter gefestigt werden. Ich hätte nichts dagegen, wenn wir mit 30 eingezogen würden, nachdem wir studiert und geheiratet haben."
Für viele Haredim geht es also nicht bloß um eine theologische Frage. Sie glauben, der Wehrdienst bedroht den Fortbestand ihrer Gemeinde. Während das Leben in ultraorthodoxen Wohnvierteln streng nach Geschlechtern geordnet und vom Rest der Gesellschaft isoliert ist, kommen Haredim in der Armee unvermittelt mit säkularen Israelis zusammen - auch oder vor allem mit Soldatinnen: "Es ist schwer, solchen Verführungen zu widerstehen, wenn man noch jung und unerfahren ist", sagt Linden. "Wir kämpfen darum, unsere einzigartige Lebensweise aufrecht zu erhalten. Die Erfahrungen in der Armee verändert viele Haredim. Sie kehren nachher nicht mehr zu den Thoraschulen zurück", sagt Breithoff. Wenn der Staat auf den Wehrdienst bestehe, "wird ein Konflikt unausweichlich". Ressler bleibt hingegen optimistisch: "Natürlich, es wird noch lange dauern, bis alle Haredim dienen werden, aber das Urteil war ein Meilenstein."
"Es ist der Beginn eines graduellen Prozesses, eine Schritt in die richtige Richtung", sagt auch Eli Benschem, der Vorsitzende von "Jad Labanim". Die Rekrutierung Tausender Haredim stelle zwar Netanjahus Koalition, die sich auch auf religiöse Parteien stützt, vor große Probleme: "Aber letztlich sind wir ein Rechtsstaat. Dieser 64 Jahre alte Konflikt muss gelöst werden."