Israelin Anat Kamm Der Verrat, über den niemand schreiben darf

Artikel aus der Zeitung "Jedioth Ahronoth": Etliche geschwärzte Passagen
Irgendwann im Dezember vergangenen Jahres klingelte es bei Anat Kamm an der Tür. Vor dem Tel Aviver Apartment der 23-Jährigen stand die Polizei. Sie übergab der Journalistin einen Gerichtsbeschluss: Sie dürfe ihre Wohnung bis auf weiteres nicht mehr verlassen. Wie es der jungen Frau seitdem geht, wie sie mit der Gefangenschaft in den eigenen vier Wänden fertig wird, ist nicht bekannt: Seit jenem Wintertag hat sich ein Mantel des Schweigens über das Leben der Anat Kamm gelegt.
Denn mit dem Beschluss, die Israelin unter Hausarrest zu stellen, hatte das Gericht eine weitere Order erteilt: Niemand in Israel darf über den Fall Kamm sprechen. Nicht sie. Nicht ihre Familie. Nicht ihre Freunde. Nicht ihre Anwälte. Wer redet, dem droht Gefängnis. Die Nachrichtensperre betrifft die einheimischen Medien genauso wie in Israel stationierte Korrespondenten ausländischer Blätter.
Es ist, als hätte es Anat Kamm nie gegeben.
Dass der Fall nun doch publik geworden ist, ist einigen couragierten israelischen Journalisten zu verdanken. Sie wollten sich nicht mit dem Maulkorb abfinden und steckten im Ausland lebenden Kollegen, was sie über den Fall wussten. Die setzten das Puzzle zusammen, so gut sie konnten.
Kamms Geschichte ist eine von Verrat und Rache: Ein Beispiel dafür, wie massiv die israelischen Sicherheitsbehörden gegen Nestbeschmutzer aus den eigenen Reihen vorgehen.
Langer Streit zwischen Sicherheitsbeamten und Zensurbehörde
Das Drama beginnt im Sommer 2005, als Kamm ihren in Israel auch für Frauen obligatorischen Wehrdienst antritt. Sie wird zu einem Bürojob eingeteilt und arbeitet für Generalmajor Yair Naveh, den Kommandeur der israelischen Truppen im Westjordanland. Über seinen Schreibtisch gehen Memos zu den sogenannten "gezielten Tötungen", mit denen die Armee seit dem Jahr 2000 vornehmlich im Westjordanland als gefährlich eingestufte Palästinenser bekämpft.
2006 verbietet Israels Oberster Gerichtshof diese Tötungen, die Streitkräfte sollen fortan nur noch in wirklich außergewöhnlichen Fällen töten dürfen. Die Armee verspricht Gehorsam, hält sich aber anscheinend nicht an die Maßgaben des Gerichts: Im Sommer 2007 töten Soldaten in den besetzten Gebieten erneut gezielt palästinensische Milizionäre. Doch vorerst schenken die israelischen Medien den Fällen keine Beachtung.
Im November 2008 dann reicht der Journalist Uri Blau einen Artikel bei der israelischen Zensurbehörde ein. Für die liberale Tageszeitung "Haaretz" will er unter dem Titel "Lizenz zum Töten" beschreiben, wie sich Naveh und seine Männer über den Gerichtsbeschluss hinweggesetzten. Die Zensurbehörde - jeder in Israel lebende Journalist muss seine Artikel dort zur Veröffentlichung freigeben lassen - winkt die Geschichte durch: Sie scheint zwar brisant, enthält aber in den Augen des Zensors nichts, was dringend geheim gehalten werden müsste.
Doch Blau belegt seine Anschuldigungen mit Dokumenten, die aus Navehs Büro stammen - und hier kommt Anat Kamm ins Spiel: Sie hat in der Zwischenzeit ihren Armeedienst beendet und arbeitet als Journalistin für eine Web-Seite, die zu "Haaretz" gehört. Die Sicherheitsbehörden werden aufmerksam: Hat Kamm während ihrer Zeit in Navehs Büro die Papiere fotokopiert und nach Ende ihres Wehrdiensts an einen in Israel bekannten Enthüllungsjournalisten weitergegeben?
Obwohl der Zensor keine Einwände gegen Blaus Geschichte hatte, ermitteln die Sicherheitsbehörden: Insider berichten von einem lange schwelenden Streit zwischen den Streitkräften und den Geheimdiensten auf der einen und dem Zensor auf der anderen Seite. Viel zu oft, so Militärs und Agenten, lasse die Zensur Geschichten durchgehen, die das Ansehen des Sicherheitsapparats beschädigten.
Die Militärs finden einen Richter, der Anat Kamm unter Hausarrest stellt und die Nachrichtensperre verhängt. "Damit haben sie drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen", sagt ein Informant, der nicht namentlich zitiert werden will. "Sie haben der Zensurbehörde eins ausgewischt, Anat Kamm wird hart bestraft werden, und vor allem wird es so schnell niemand mehr wagen, zu enthüllen, wenn die Armee widerrechtlich handelt."
Kampf gegen die Nachrichtensperre
Der "Haaretz"-Journalist Blau lebt inzwischen aus Angst vor Repressalien im selbstgewählten Exil in London. "Haaretz" und der Sender Kanal 10 haben die Nachrichtensperre angefochten, Gerichtstermin ist der 12. April.
Vorerst noch haben Israels Journalisten jedoch mit einem Blackout-Befehl zu kämpfen, der viel restriktiver ist als in früheren Fällen. Hebräische Medien dürfen nicht einmal zitieren, was ausländische Veröffentlichungen in der Sache schreiben.
Die auflagenstärkste Tageszeitung "Jedioth Ahronoth" wehrte sich am Sonntag auf ihre Weise: "Die ganze Welt berichtet über das, was der israelische Geheimdienst zu vertuschen versucht", titelte die Zeitung und druckte eine Liste der ausländischen Medien ab, in denen sich die Leser informieren können. Am Dienstag druckte die Zeitung einen langen Bericht, den die US-Journalistin Judith Miller für die Internetseite "The Daily Beast" über den Fall Kamm geschrieben hatte. Demonstrativ schwärzte die Redaktion dabei alle Passagen, die sie aufgrund des Gerichtsbeschlusses nicht veröffentlichen durften.
Ami Kaufman, israelischer Journalist und Blogger, schrieb sich für die "Huffington Post" seinen Frust von der Seele: "Ich kann Ihnen nicht sagen, worüber ich hier schreibe. Wenn ich es tue, könnte ich verhaftet werden. Nein, ich lebe nicht in Iran. Ich lebe nicht in Myanmar. Ich lebe nicht in China. Ich lebe in 'der einzigen Demokratie im Nahen Osten'", bloggte Kaufman - so rühmt sich Israel immer wieder selbst.