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"Samstagsmütter": "Was würden Sie tun, wenn Ihre Kinder verschwunden wären"

Foto: BULENT KILIC/ AFP

Polizeigewalt in der Türkei Mütter als Staatsfeinde

Seit 23 Jahren erinnern in Istanbul Mütter an Söhne, die von der Polizei verschleppt und ermordet wurden. Nun soll der Protest verboten werden - für viele ein Tabubruch.

Emine Ocak ist 82 Jahre alt. Sie hat neun Kinder zur Welt gebracht. Sie sagt, sie habe nie gegen das Gesetz verstoßen. Für die türkische Regierung ist sie trotzdem eine Terrorhelferin.

Das war nicht immer so. Seit 23 Jahren erinnert Ocak jeden Samstag gemeinsam mit ein paar Dutzend Demonstranten auf der Istiklal-Straße in Istanbul an ihren Sohn Hasan und viele hundert weitere Kurden und Linke, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren von türkischen Sicherheitskräften verschleppt und mutmaßlich ermordet wurden. Lediglich zwischen 1999 und 2009 gab es keine Demonstrationen.

Am vergangenen Samstag sollte der Protest in seine 700. Woche gehen. Doch - anders als sonst - löste die Polizei die Versammlung mit Tränengas und Wasserwerfern auf. 47 Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen.

Die Behörden werfen Ocak und ihren Mitstreiterinnen vor, Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu unterhalten. "Sollten wir wegsehen, wenn Mutterschaft von einer Terrororganisation missbraucht wird?", fragte Innenminister Sülyeman Soylu.

Ocak klagt, der Staat wolle die Demonstranten einschüchtern. Ihr Sohn, Hasan, wurde am 21. März 1995 festgenommen. Er war damals 29 Jahre alt, hatte Lehramt studiert und in der Altstadt von Istanbul ein Teehaus eröffnet. Die Familie stammt aus Tunceli, einer Provinz in Anatolien, in der viele Kurden und Aleviten leben. Hasans Schwester Maside glaubt, dass ihr Bruder durch Zufall ins Visier der Polizei geraten ist. Am Tag seiner Festnahme feierten Kurden in Istanbul ein illegales Neujahrsfest. Polizisten stürmten Ocaks Teestube.

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"Samstagsmütter": "Was würden Sie tun, wenn Ihre Kinder verschwunden wären"

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Die Familie suchte vergeblich nach Hasan, fragte bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Nach zwei Monaten identifizierte Maside Ocak anhand von Akten der Gerichtsmedizin eine Leiche als die ihres Bruders. Kurz darauf begannen die Ocaks gemeinsam mit Angehörigen von weiteren "Verschwundenen" und Menschenrechtlern jeden Samstag auf der Istiklal-Straße zu demonstrieren. Sie fordern, dass die Überreste ihrer Söhne, Brüder, Ehemänner übergeben und die Mörder bestraft werden.

Die "Samstagsmütter" galten als unangreifbar - bislang

Seit den Protesten im Istanbuler Gezi-Park 2013 sind so gut wie alle Kundgebungen auf der Istiklal-Straße untersagt. Lediglich die sogenannten "Samstagsmütter" durften weiter protestieren. Sie galten als unangreifbar. Selbst AKP-Politiker machten sich lange Zeit mit ihrer Sache gemein. Präsident Recep Tayyip Erdogan empfing als Premier die Mütter noch 2011 und versprach ihnen seine Unterstützung. Doch das scheint nun vorbei.

Dass nun auch das Gedenken der "Samstagsmütter" verboten werden soll, betrachten viele Menschen in der Türkei als einen weiteren Tabubruch. "Die Regierung erstickt jede Form von zivilgesellschaftlichem Engagement im Keim", sagt Murat Celikan vom Istanbuler "Zentrum für Gerechtigkeit und Erinnerung".

Celikan und seine Kollegen haben 1350 Fälle von Menschen identifiziert, die zwischen dem Militärputsch 1980 und der Regierungsübernahme durch Erdogan 2002 vom Staat verschleppt wurden. Es sei wichtig, dass die Fälle aufgeklärt würden, sagt Celikan, nicht nur, damit den Betroffenen Gerechtigkeit widerfahre, sondern auch damit die Türkei aus den Verbrechen lerne.

Präsident Recep Tayyip Erdogan

Präsident Recep Tayyip Erdogan

Foto: ADEM ALTAN/ AFP

Erdogan hat nach seinem Wahlsieg 2002 einen Bruch mit der Vergangenheit versprochen. Seine Regierung verfolgte eine "Null Toleranz gegenüber Folter"-Politik. Nun jedoch, fürchtet Celikan, kehrten manche der Praktiken aus den Neunzigerjahren zurück. Menschenrechtsorganisationen berichteten von Folter in türkischen Gefängnissen, im vergangenen Jahr sind erstmals seit Jahren wieder Menschen in Polizeigewahrsam verschwunden.

Der Wandel im Umgang mit den "Samstagsmüttern" ist aber auch ein weiteres Indiz für den zunehmenden Einfluss der Ultranationalisten. Die besetzten bereits in den Neunzigerjahren wichtige Positionen im Staat. Nun haben sie mehr und mehr zu sagen in der Regierung Erdogan. So gilt Innenminister Soylu als Ziehsohn des rechtsnationalen Politikers Mehmet Agar, der als Innenminister in den Neunzigerjahren für die Verbrechen der Polizei an Kurden und Linken mitverantwortlich war.

Die "Samstagsmütter" wollen ihren Protest trotz der Repressionen fortsetzen. Emine Ocak richtete sich bei einer Pressekonferenz am Freitagmittag direkt an Erdogan: "Herr Präsident, was würden Sie tun, wenn Ihre Kinder verschwunden wären?"

Mitarbeit: Eren Caylan
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