Italien Aufstand der Mamakinder

Es waren vor allem die jungen Wähler, die in Italien den Populisten zum Aufschwung verholfen haben. Warum stimmen sie für Feinde der EU? Ein Besuch an Roms ältester Universität.
Valerio

Valerio

Foto: Claus Hecking

Valerio arbeitet hart für seine Zukunft. Nur: Er weiß nicht, ob ihm Italien irgendeine Zukunft bietet. "An der Universität ist alles in Ordnung", sagt der 26-jährige Biologiestudent, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Aber: "Ich habe Angst vor dem, was danach kommt."

Valerio fährt sich durch seinen Vollbart, guckt zu Boden. Der junge Römer hat getan, was er konnte. Er hat ein naturwissenschaftliches, angesehenes Studienfach gewählt, hat fleißig gebüffelt, hat Praktika gemacht und sich nebenbei für andere engagiert. Und seine Noten sind gut: So gut, dass er nun sogar seine Doktorarbeit schreiben könnte, hier an Roms Traditionsuniversität Sapienza. Die Dissertation würde den Moment herauszögern, den Valerio so fürchtet: Den Moment, an dem er ins Berufsleben wechseln soll.

Da draußen, jenseits der Mauern des riesigen Campus in der Nähe des Hauptbahnhofs von Rom, haben viele der 112.000 Studenten von Europas größter Hochschule wenig zu erwarten. Junge Menschen sind die größten Verlierer der "Crisi", der italienischen Dauermisere, die nun schon zehn Jahre währt. Die Jugendarbeitslosenquote unter den 15- bis 24-Jährigen, Schüler und Studenten ausgenommen, beträgt fast 32 Prozent. In der Altersgruppe 25 bis 34 hat jeder Sechste keinen Job.

Wahlen aus Protest und Frust

Nicht einmal in Griechenland ist der Anteil derjenigen jungen Erwachsenen, die weder eine Arbeit haben noch in Aus- oder Fortbildung sind, derart hoch wie in Italien. "Wir reden hier von einer ganzen verlorenen Generation junger Menschen", sagt Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Und diese Generation hat die herrschenden Verhältnisse satt: Bei der Parlamentswahl im März stimmten 44 Prozent der 18- bis 30-Jährigen für die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) - plus weitere 13 Prozent für die rechte Lega. In keiner Altersgruppe waren die Populisten stärker: trotz oder gerade wegen ihrer eurokritischen Aussagen.

"Diese Wähler stehen größtenteils nicht hinter der Fünf-Sterne-Bewegung. Sie wählen aus Protest und Frust", sagt Pawel Tokarski, Italien-Experte bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die junge Generation kenne die Probleme der Lira kaum noch. Sie sei mit dem Euro aufgewachsen und einer nicht enden wollenden Krise. "Für sie ist der Euro gleichbedeutend mit Stagnation, Arbeits- und Perspektivlosigkeit", sagt Tokarski. "Und sie fühlen sich vernachlässigt: von den italienischen und europäischen Politikern."

Erica

Erica

Foto: Claus Hecking

Auch Valerio hat die Fünf Sterne gewählt: "In den letzten 20 Jahren haben die etablierten Parteien bewiesen, dass sie inkompetent sind. Die Fünf-Sterne-Bewegung ist anders." Ähnlich wie er denken viele hier auf dem Campus. "Das M5S ist die einzige Hoffnung, die wir noch haben", sagt Erica, 20, Chemie- und Pharmatechnologiestudentin. "Ob sie unsere Probleme lösen, weiß ich nicht. Aber sie haben wenigstens Vorschläge für junge Leute."

Minimale Grundsicherung

Stimmen bringt dem M5S und seinem erst 31-jährigen Spitzenkandidaten Luigi Di Maio vor allem das geplante "Bürgereinkommen": 780 Euro pro Monat für Alleinstehende. Es ist bei Weitem kein bedingungsloses Grundeinkommen. Nein, die Leistungsempfänger müssen auf Anweisung gemeinnützige Arbeiten erledigen, sich weiterbilden - und aktiv nach Arbeit suchen. Wer drei Angebote ablehnt, wird rausgeworfen. So hart ist nicht einmal das in Deutschland so verhasste Hartz IV.

Aber in Italien ist Di Maios Idee extrem populär, gerade bei jungen Menschen. Denn die haben oft gar keine oder allenfalls eine minimale Grundsicherung. Bis Anfang dieses Jahres kannte Italien keine allgemein zugängliche Sozialhilfe. Erwartet wird, dass Eltern oder Großeltern den Nachwuchs mit durchschleppen.

Zwei von drei Italienern im Alter zwischen 18 und 34 leben noch unter dem Dach ihrer Eltern. "Mammoni", Mamakinder, werden sie abschätzig genannt. Aber viele haben gar keine Wahl, als am Rockzipfel hängen zu bleiben. Sie können sich die Miete für die eigene Wohnung oder ein WG-Zimmer nicht leisten. Auch Valerio und sein Bruder sind Mammoni: In der elterlichen 100-Quadratmeter-Wohnung leben nun vier Erwachsene. Valerio kommt nur noch zum Schlafen nach Hause, sonst hält er es nicht aus. "Ich würde mich so gerne emanzipieren", sagt er, "aber wie soll ich das bezahlen?"

Hohe Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse

Laut einer Studie der Bruno-Visentini-Stiftung brauchen junge Italienerinnen und Italiener immer länger, um finanziell unabhängig zu werden. Ein stabiles Einkommen, das den Lebensunterhalt einer Familie ermöglicht, erreichten sie 2004 im Durchschnitt noch im Alter von 30 Jahren. 2020 werden sie das laut der Studie wohl erst mit 38 Jahren schaffen.

"Wie sollen wir unter diesen Verhältnissen erwachsen werden und selbst Kinder kriegen?", fragt Erica, die Chemiestudentin. Seit Jahren sind die jungen Italiener im Geburtenstreik. Auf 1000 Einwohner kamen 2017 nur noch 7,8 Neugeburten, damit ist das Land mit Abstand Schlusslicht in Europa. Laut der nationalen Statistikbehörde wurden seit dem Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1861 nie so wenige Kinder geboren wie jetzt. Und Italien überaltert immer mehr.

Erica hofft, dass sich alles gebessert hat, wenn sie fertig ist mit der Uni: in drei, vier Jahren. Immerhin sind die Zahlen nicht mehr ganz so furchterregend wie Anfang 2017. Da gab es 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Langsam wirken die Arbeitsmarktreformen der abgewählten sozialdemokratischen Regierung, die unter anderem den extrem strengen Kündigungsschutz für Arbeitnehmer lockerte. Doch die neu geschaffenen Jobs sind oft prekär und mies bezahlt. Mehr als die Hälfte der jungen Arbeitnehmer haben befristete oder Teilzeitverträge, teils werden sie nur tageweise eingesetzt, wenn der Chef gerade eine Aushilfe braucht. Krankengeld gibt es oft gar nicht, der Zugang zur Sozialversicherung ist beschränkt.

Wenig Geld vom Staat für Bildung

"Wenn man sich bewirbt, fragen die Unternehmer als erstes immer nach der Berufserfahrung. Aber wie sollen wir denn Berufserfahrung kriegen, wenn uns niemand einstellt", fragt Aurora, 19, eine Marketing- und Kommunikationsstudentin.

Aurora (r.)

Aurora (r.)

Foto: Claus Hecking

Junge erwachsene Italiener gelten allgemein als relativ schlecht ausgebildet. Sie selbst können dafür wenig. Die Politik hat zu verantworten, dass der Anteil für Bildung an den gesamten Staatsausgaben laut der Industrieländerorganisation OECD jahrelang gesunken ist. 2014 - neuere Zahlen liegen nicht vor - lag er nur noch bei 7,1 Prozent. Das war der niedrigste Wert aller OECD-Staaten. Immerhin startete der damalige Premier Matteo Renzi 2015 eine Schulreform, ließ Tausende Lehrer einstellen. Das aber reicht längst nicht: In internationalen Bildungsvergleichen rangieren junge Italiener oftmals weit unten.

Die gut Ausgebildeten und trotzdem Perspektivlosen suchen den Exodus, in großer Zahl. Mehr als eine halbe Million Menschen haben Italien seit 2013 verlassen; allein 180.000 gingen nach Deutschland. Rund die Hälfte dieser Auswanderer war zwischen 19 und 32 Jahre alt.

Auch Valerio und Erica haben schon darüber nachgedacht, eines Tages wegzugehen - obwohl sie gar nicht wegwollen aus ihrer Heimat. Aber vielleicht kriegen sie nur im Ausland die Chance, endlich erwachsen zu werden.

Video: Durch Italien mit Etta Scollo - Europa am Abgrund

SPIEGEL TV

Zusammengefasst: Die Arbeitslosenquote unter jungen Leuten in Italien ist extrem hoch. Hunderttausende finden keinen Job, keine Wohnung, können keine Familie gründen und wohnen ewig bei den Eltern. Viele geben dem Parteien-Establishment die Schuld und der EU. Aus Wut wählen sie Lega oder die Fünf-Sterne-Bewegung.

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