
Italien: Verzweifelter Kampf der sardischen Kumpel
Reformplan Monti verordnet Italien neue Radikalkur
Rom - Die Bilder schockierten das ganze Land. 370 Meter unter der Erde griff Stefano Meletti vor laufenden Kameras und einem Dutzend Journalisten zum Messer und schnitt sich in den Arm.
"Eine Geste der Verzweiflung", sagten seine Kumpels und brachten den blutenden 48 Jahre alten Familienvater ins Krankenhaus. Die Bergleute hatten sich in den Stollen der Mine Carbosulcis, im Südwesten der Insel Sardinien, mit 400 Kilo Sprengstoff verschanzt und drohten auf ihrer Unter-Tage-Pressekonferenz: "Wir sind zu allem bereit." Ihr Ziel ist, die für Jahresende geplante Schließung des letzten Kohlebergwerks in Italien zu verhindern, ihre 500 Arbeitsplätze zu retten. Erst als die Regierung in Rom Hilfe zusagte, und die Mine einstweilen weiter fördern soll, kletterten die Bergleute am Montag aus dem Schacht. Vorübergehend - sie sind entschlossen, sagen sie, weiter zu kämpfen, wenn es nötig ist. Sie meinen es ernst.
Man kann sie verstehen. Denn andere Jobs gibt es für sie nicht. In Sardinien liegt die Arbeitslosigkeit schon jetzt bei 16 Prozent, und jeden Monat verlieren im Schnitt weitere 1.800 Arbeitnehmer ihre Stelle. Unter den jungen Sarden zwischen 18 und 24 Jahren übersteigt die Arbeitslosigkeit bald die 40-Prozent-Marke
Außer in einigen Regionen im Norden des Landes sieht es überall in Italien ähnlich aus. In den vergangenen fünf Jahren gingen rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren. Leidtragende sind die Jungen. 35 Prozent der Unter-24-Jährigen sind im Landesdurchschnitt ohne Job. Und der Trend zum Negativen ist ungebrochen.
Zulauf für Anti-Euro-Populisten
Auch die meisten derer, die einen Arbeitsplatz haben, müssen von einem Halbjahr zum nächsten zittern, weil die Zahl der kurzfristig limitierten Arbeitsverträge längst die der klassischen, unbefristeten übersteigt. Gleichzeitig werden auch Vollzeitjobs immer rarer, mehr als 400.000 sind seit 2008 verlorengegangen. An ihre Stelle treten Teilzeitofferten, von deren Entlohnung man kaum leben kann. Zumal die Inflation in Italien bei über drei Prozent liegt und die Kaufkraft jeden Monat schmälert.
Sogar die EU-Kommission, bislang Gralshüterin des strikten Sparkurses für alle Krisenländer, hat nun die katastrophale Entwicklung auf den Arbeitsmärkten bemerkt. Der für Beschäftigungspolitik zuständige Kommissar Laszlo Andor warnt vor einem "sozialen und wirtschaftlichen Desaster", wenn - nicht nur in Italien, sondern beinahe überall in Südeuropa - eine halbe Generation in eine Sozialhilfeexistenz getrieben wird.
Fatale Konsequenzen ergeben sich daraus auch für die Politik. Überall in Europa wandern vor allem jüngere Wähler aus dem Lager der klassischen Parteien ab und strömen Populisten zu. Ob rechts oder links, ob in Griechenland oder bei den jetzt anstehenden Wahlen in den Niederlanden - wer kräftig auf die EU eindrischt, gewinnt die Herzen der Enttäuschten. In Italien lockt ein aus dem Fernsehen landesweit bekannter Komiker, Beppe Grillo, erfolgreich mit derber Anti-Europa-Rhetorik. Nach den letzten Umfragen hat seine Bewegung "Fünf Sterne" gute Chancen, zweitgrößte Kraft im nächsten Parlament zu werden.
Italiens Wirtschaft: nicht wettbewerbsfähig
Die ökonomische Misere des Landes ist mit wenigen Kennzahlen zu beschreiben. Die Produktivität Italiens lag vor 20 Jahren etwa fünf Prozent unter dem Durchschnitt der Nachbarn, heute liegt sie zwölf Prozent unter dem Niveau der Euro-Länder. Die Arbeitskosten dagegen steigen überdurchschnittlich, um über drei Prozent pro Jahr. Diese Schere macht die Produktion Italiens immer teurer. Viele Betriebe, die nicht gerade Luxusmode und ähnliches herstellen, wo Preise keine große Rolle spielen, machen dicht. Dazu kommt
- eine alles behindernde Bürokratie,
- eine unsichere Rechtslage (die Justiz bequemt sich meist erst nach Jahren, manchmal Jahrzehnten zu einem Urteil),
- eine teilweise marode Infrastruktur
- und eine hohe Steuerquote (45 Prozent).
So ist die Lust nicht sonderlich groß, in Italiens Wirtschaft zu investieren.
Die Sanierung der realen Wirtschaft hat der römische Regierungschef deshalb, nachdem sich die Finanzmärkte etwas beruhigt haben, zur wichtigsten Aufgabe seiner Regierung erklärt. Von seinen Ministern erwartet er zügig Vorschläge darüber, "was die Regierung tun kann, um die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen zu erhöhen". Am 6. September will er in Brüssel ausloten, was die EU-Fördertöpfe dafür hergeben können. Und mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften seines Landes will er alsbald einen "Pakt für Produktivität" aushandeln. Beide Seiten wird er in den nächsten Tagen zur ersten, getrennten Gesprächsrunde treffen.
Spätestens dabei dürfte er allerdings feststellen, wie abenteuerlich das Vorhaben wird. Denn die Ein- und Ansichten über den richtigen Weg in eine bessere Zukunft gehen weit auseinander. Weitere Liberalisierungen, vor allem am Arbeitsmarkt, fordern die Unternehmer, dazu Steuererleichterungen und einen massiven Ausbau der Infrastruktur. Gegen den ersten Wunsch laufen die Gewerkschaften Sturm, für letztere fehlt Monti das Geld.
Viele Italiener haben schon jetzt den Eindruck, dass die Probleme des Landes ausschließlich auf Kosten der kleinen Leute gelöst werden. Sie bezahlen die Monti-Reformen mit höheren Steuern, steigenden Abgaben für das Gesundheitssystem, einer längeren Lebensarbeitszeit, sinkender Kaufkraft.
Generalstreik im Herbst
Auch die Gewerkschaften rufen nach Steuererleichterungen, aber nicht für die Betriebe, sondern für deren Belegschaften, insbesondere für die unteren Einkommensgruppen. Und sie fordern einen entschiedenen Einsatz der Regierung für den Erhalt der vorhandenen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Andernfalls drohen sie mit flächendeckenden Protestaktionen. Der erste Generalstreik im Öffentlichen Dienst ist für den 28. September angesetzt.
Doch der Monti-Regierung dürfte es schwer fallen, den negativen Trend auf dem Arbeitsmarkt schnell umzukehren. Denn sie will ja vor allem die Produktivität und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft steigern. Das ist langfristig gewiss richtig und nötig im Konkurrenzkampf auf globalen Märkten. Kurzfristig bedeutet das freilich, dass die gleiche Menge an Gütern und Dienstleistungen mit weniger Arbeit hergestellt und erbracht werden soll. Ohne Wachstum frisst der Produktivitätszuwachs Jobs.
Mit Wachstum aber ist in Italien derzeit nicht zu rechnen. Im Gegenteil. Ging die römische Regierung bislang davon aus, dass die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 1,2 Prozent schrumpfen werde, schätzt die Notenbank Banca d'Italia jetzt, dass es sogar ein Minus von zwei Prozent werde. Und auch fürs nächste Jahr prognostizieren die Zentralbanker kein Plus-, sondern weiterhin ein Minuszeichen. Der Arbeitsplatzabbau wird also erst einmal weitergehen.
Das werde "ein schwieriger Herbst", sagt Arbeitsministerin Elsa Fornero voraus. Die parteilose 64-jährige Wirtschaftsprofessorin neigt zu vornehmer Untertreibung.