

Geburtenkrise in Italien "Unser ganzes Leben ist von Verzicht geprägt"

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für globale Probleme.
Wenn Rita Piccoli ihren Verlobten Riccardo fragt, wann sie endlich diesen nächsten Schritt tun, nämlich ein Kind bekommen, dann weiß sie schon, dass er wieder ihre Hand ganz fest drücken wird, dass er dann sagen wird: "Wir müssen auf bessere Zeiten warten." Dass dann der Wunsch nach einer Familie wieder zu ein paar Silben schrumpft, "fantasticheria", eine Träumerei.
Die beiden sitzen, wenn sie davon erzählen, an ihrem Küchentisch in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Dorf oberhalb der Stadt Catania auf Sizilien, wo Ende November die Mandarinen in den Vorgärten hängen wie kleine Monde.

Ricardo und Rita, heute beide 34, kurz nach ihrem Kennenlernen vor 15 Jahren
Foto: Maria FeckRita und Riccardo, beide 34, haben sich vor mehr als 15 Jahren im Klassenzimmer kennengelernt, sie kamen schnell zusammen, später schrieben sie sich an derselben Uni ein. Accademia Belle Arti di Catania. Grafikdesign. Das waren die guten Zeiten.
"Natürlich wollen wir Kinder, eigentlich wollen wir mehr als zwei", sagt Riccardo. "Aber wie soll das gehen?"
Im Jahr 2018 sind in Italien 439.747 Kinder geboren worden, das sind so wenige wie nie zuvor. Das Land hat die niedrigste Geburtenrate in Europa, eine Frau bringt hier im Schnitt 1,29 Kinder zur Welt. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Zahl bei 1,57, im europäischen Durchschnitt bei 1,6 Kindern.

Hebamme mit Neugeborenem in Catania, Sizilien
Foto: Maria FeckDie Zahl der Neugeborenen schrumpft seit dem Babyboom 1964 kontinuierlich. Jede neue Statistik birgt einen neuen Negativrekord. Inzwischen sterben mehr Menschen, als geboren werden.
Woran liegt das?
Ernesto Falcidia hat in seinem Leben ungefähr 20.000 Kinder zur Welt gebracht, er hat das mal ausgerechnet. Aber wenn der Frauenarzt davon erzählt, dass in Italien im vergangenen Jahr noch einmal viel weniger Babys geboren wurden als 2017, dann spricht er von einem "Verlust", dann sagt er: "Wir haben hier einen nationalen Notfall."
Falcidias Büro liegt im Erdgeschoss der Frauenklinik "Casa di Cura" in Catania, links hinter dem Empfang. Ein Drehstuhl, ein Holzschreibtisch, darauf in einer Ecke lauter kleine Engelsfiguren, "für jede Geburt der letzten Zeit eine", sagt Falcidia.

Ernesto Falcidia im Operationssaal der Geburtsklinik Casa di Cura
Foto: Maria FeckDer Arzt ruft die aktuelle Statistik auf seinem Computer auf. Da steht: 31,2 Jahre ist eine Frau in Italien im Schnitt alt, wenn sie ihr erstes Kind zur Welt bringt. In Deutschland sind Frauen beim ersten Kind 30 Jahre alt.
Falcidia beugt sich vor. Er sagt, viele Frauen kommen zu ihm in die Sprechstunde, wenn sie weit über 40 Jahre alt sind. Erst dann fühlten sie sich in der finanziellen Lage, ein Kind durchzubringen. Doch weil es in dem Alter oft schwierig sei, noch schwanger zu werden, führe er inzwischen viele künstliche Befruchtungen durch.
Aus Falcidias Sicht gibt es nicht den einen Grund für den Geburtenrückgang. Einer sei aber bestimmt die finanzielle Unsicherheit im Leben der jungen Leute: Seit der Wirtschaftskrise 2008, sagt Falcidia, seien die Geburten so richtig eingebrochen. Es gibt keine sicheren Jobs. 28 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren sind arbeitslos, im Süden gar mehr als die Hälfte. Viele junge Leute gehen weg, ins Ausland. Sie gründen dort ihre Familien.

Engelsfiguren auf Ernesto Falcidias Schreibtisch: "Für jede Geburt eine"
Foto: Maria Feck/ DER SPIEGELFalcidia sagt, es betreten Frauen seine Praxis, die auf der Arbeit unter Druck gesetzt oder gekündigt wurden, weil sie schwanger sind. Er sagt, er verstehe nicht, warum weder die italienische Regierung noch die Arbeitgeber mehr für Familien tun. "Es fehlen öffentliche Kitas, Kindergärten, Schulen an allen Ecken", sagt der Arzt.
Paare in Italien, so scheint es, sind nicht per se gegen Nachwuchs. Viele zögern aber, weil ihnen die Situation nicht stabil genug vorkommt, um Eltern zu werden.
Eine italienische Familie erhält in den ersten drei Jahren nach der Geburt des Kindes einen "Bonus Bébé", 80 Euro monatlich - aber nur, wenn ihr Jahreseinkommen unter 25.000 Euro liegt. Der gesetzliche Mutterschutz beträgt fünf Monate, Väter können sich bei der Geburt ihres Kindes maximal fünf Tage bezahlten Urlaub nehmen.
Zusätzlich können Mütter und Väter Elternzeit beantragen, allerdings mit einer geringen finanziellen Vergütung. Das führt dazu, dass vor allem Frauen zu Hause bleiben, weil sie im Schnitt weniger verdienen. Und es verstärkt im eher konservativen Italien die Tatsache, dass Kindererziehung immer noch vor allem Frauensache ist. Für sie bleibt Familie ein Entweder-oder: entweder ein Job. Oder ein Kind.

Neugeborenes in der Geburtsklinik in Catania: Jedes Jahr kommen weniger Kinder zur Welt
Foto: Maria FeckZurück ins Wohnzimmer von Rita und Riccardo Piccoli. Rita hat eine Duftkerze angezündet, es riecht nach Vanille. Sie erzählt, wie die schwierige Zeit begann.
Wie beide nach ihrem Uniabschluss keine Jobs fanden. Wie sie weiter bei ihren Eltern wohnten, weil sie sich keine Miete leisten konnten. Wie sie es erst in diesem Jahr wagten, zum ersten Mal auszuziehen von zu Hause, in eine eigene kleine Wohnung. Rita arbeitet in einem Shop, in dem man seine T-Shirts bedrucken lassen kann. Riccardo arbeitet mal an der Uni, mal als Obstverkäufer, als Postbote, Gärtner, Hochzeitsfotograf.
Das Paar hat zwischen 700 und 1000 Euro im Monat zum Leben, zu zweit, davon zahlen sie 250 Euro Miete. "Wenn ich ein Baby habe, will ich ihm das Beste bieten, was ich habe, aber im Moment haben wir ja nichts", sagt Rita.

Leere Stühle im Wartezimmer der Geburtsklinik: Der Chefarzt führt immer öfter künstliche Befruchtungen durch
Foto: Maria FeckDie beiden erzählen, dass viele ihrer Freunde weggegangen seien, nach London oder Paris oder Australien, sie sagen, man müsse viele Opfer bringen, wenn man auf Sizilien bleibe. Rita hofft, dass ihr Auto den nächsten Winter übersteht. Sie hat den Vertrag im Fitnessstudio gekündigt, die Möbel haben sie fast alle selbst gebaut. Aber das größte Opfer, sagt sie, sei der Verzicht auf ein Kind.
Soziologen und Demografieforscher raten, der italienische Staat müsse endlich handeln - und die Bedingungen für junge Familien und Kinder verbessern. Geld investieren. In der letzten Zeit machten Politiker aber vor allem mit fragwürdigen Ideen Schlagzeilen:
"Ein Land ohne Kinder ist ein Land, das stirbt", sagte der Ex-Innenminister Matteo Salvini im Frühjahr - und erklärte das Thema Baby zur Chefsache. Doch statt für mehr öffentliche Kitaplätze zu sorgen, brachte seine Partei, die rechtspopulistische Lega, eine sogenannte Ackerlandprämie in den Haushaltsentwurf ein. Wer bis 2021 ein drittes Kind zur Welt bringt, soll vom Staat Ackerland zugesprochen bekommen.

Gynäkologe Falcidia im Gespräch mit einer Patientin
Foto: Maria FeckUnd dann gab es, ein paar Jahre vorher, noch die Idee der damaligen Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin. Sie führte einen nationalen Fruchtbarkeitstag ein, am 22. September. Begleitend dazu ließ sie Plakate im ganzen Land aufhängen.
Darauf zu sehen war zum Beispiel eine Frau, die mit der einen Hand ihren Bauch, mit der anderen eine Sanduhr hält. Daneben der Spruch: "Schönheit kennt kein Alter. Fruchtbarkeit schon." Ein anderes Plakat zeigte eine Männerhand, die eine Zigarette hält, und der Satz: "Lass dein Sperma nicht in Rauch aufgehen." Die Kampagnen, das kann man sagen, waren kein großer Erfolg.
Familie Bonaccorso, Vater, Mutter, ein Sohn, eine Tochter
"Auf die Politik hoffe ich schon lange nicht mehr", sagt Francesco Bonaccorso, 41. Er trägt noch den grünen Overall von seiner Arbeit, der Stadtreinigung, als er sich zu seiner Familie ins Wohnzimmer setzt, zu seiner Frau Lucia, 36, und der Tochter Sophia, 11. Später wird auch der Sohn Salvatore, 17, dazukommen.
Die Familie Bonaccorso lebt in einem ärmeren Viertel von Catania, im Hinterhof hängt an Leinen Wäsche, nach vorn raus gibt es Ladenflächen, die meisten von ihnen werden nicht genutzt. Die Bonaccorsos sind eine jener Familien in Italien, die sich für Kinder entschieden haben, aber dadurch in akute finanzielle Probleme geraten sind.
Lucia war mit gerade 18 zum ersten Mal schwanger. Kurz vorher hatte sie Francesco kennengelernt. Sie haben sich gleich verliebt. Sie heirateten. 17 Jahre ist das her. Das Hochzeitsfoto, auf dem das Paar an einem silbernen Mercedes lehnt, hängt über dem Sofa im Wohnzimmer.

Familie Bonaccorso in ihrer Wohnung: "Zum ersten Mal so etwas wie Sicherheit"
Foto: Maria Feck/ DER SPIEGELFrancesco suchte nach einer Anstellung, um seine Familie zu versorgen, vergeblich. Der Jobmangel im Süden und später die Wirtschaftskrise trafen die Familie direkt. Francesco finanzierte die Familie mit Gelegenheitsjobs, manchmal half er bei seinem Vater im Supermarkt aus, er arbeitete oft bis spät in die Nacht. Die Familie lebte lange von 800 Euro im Monat, zu viert. Lucia brach ihre Ausbildung zur Kosmetikerin ab, kümmerte sich um Haushalt und Kinder, bis heute hat sie den Eintritt ins Berufsleben nicht geschafft.
Italien hat europaweit eine der niedrigsten Beschäftigungsraten von Frauen, vor allem von Müttern. Experten führen das auch darauf zurück, dass es zu wenige Krippenplätze gibt, die Müttern etwa den Freiraum geben könnten zu arbeiten. In manchen Regionen werden nur fünf Prozent der Kinder in öffentlichen Kitas betreut. Wenn ein Elternteil das Geld für die ganze Familie verdienen muss, führt das in Italien oft direkt an die Armutsgrenze. In Italien leben 1,2 Millionen Kinder in akuter Armut.
"Wir hatten eigentlich gar nicht die richtige Basis, um Kinder großzuziehen", sagt Lucia und streicht ihrer Tochter Sophia durch die Haare. Dann nutzt sie das Wort, das sie oft nutzt, um ihr Leben zu beschreiben, "Verzicht". "Unser ganzes Leben ist von Verzicht geprägt", sagt sie.

Die Familie Bonaccorso lebt in einem der ärmeren Viertel Catanias
Foto: Maria FeckDas Paar überlegte lange, ob es noch ein zweites Kind bekommen solle. Sechs Jahre nach ihrem Sohn Salvatore kam dann doch Sophia zur Welt.
Und irgendwann kam auch die feste Arbeitsstelle für Francesco. Seit einigen Jahren kümmert er sich bei der Kommune um öffentliche Parks, um den Müll, er repariert, er pflanzt Blumen. Er hat jetzt ein geregeltes Einkommen, zum ersten Mal in seinem Leben. Insgesamt kommt die Familie auf 1500 Euro netto im Monat. Das ist so viel wie nie zuvor. Die Familie zahlt damit einen Kredit für ihre Drei-Zimmer-Wohnung ab, 500 Euro im Monat, die nächsten 25 Jahre lang. Salvatore, der bald seinen 18. Geburtstag feiert, teilt sich noch immer ein Zimmer mit seiner Schwester.
"Zum ersten Mal in unserem Leben haben wir so etwas wie Sicherheit", sagt Lucia. Sie müssten jetzt nicht mehr jedes Mal rechnen, ob sie ihren Kindern neue Schuhe kaufen können. Bis jetzt besitzt die Familie nur ein Fahrrad. Aber vielleicht kaufen sie bald ein zweites, dann könnten Francesco und Lucia gemeinsam die Küste entlangradeln. Lucia sagt, dass sie gern mehr Kinder bekommen hätte, aber dass es die Situation im Süden Italiens nicht zulasse.

Salvatore, 17, und Sophia, 11, teilen sich ein Kinderzimmer
Foto: Maria Feck/ DER SPIEGELSalvatore lernt gerade für sein Abitur. Irgendwas mit Ingenieurwesen zu studieren, wäre gut, sagt er. Aber er muss erst mal abklären, ob die Familie es sich leisten kann, dass er an die Uni geht.
Ernesto Falcidia aus der Geburtsklinik sagt, wenn er auf das bald endende Jahr blicke, habe er kein gutes Gefühl, was die Geburtenzahl angeht. "Ich denke", sagt er, "2019 könnten wir den nächsten Negativrekord einfahren."
Rita und Riccardo Piccoli hoffen, dass sie bald verlässliche Jobs finden. Neulich waren sie bei ihrem Neffen, er ist jetzt zwei Jahre alt und bildet seine ersten Silben. Vielleicht, sagen sie, denken sie im nächsten Jahr nicht mehr so viel nach. "Vielleicht", sagt Rita, "kriegen wir dann einfach auch ein Kind."
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