
Erdbeben in Italien: Viel versprochen, nichts gehalten
Aufbau nach Erdbeben Staatsversagen auf Italienisch
Genau vor einem Jahr zerstörte ein heftiges Erdbeben in Mittelitalien die kleine malerische Stadt Amatrice und weitere Ortschaften in der Umgebung. 299 Menschen starben, Tausende verloren ihr Zuhause.
"Niemand wird alleingelassen", versprach der damalige Regierungschef Matteo Renzi. Niemand müsse jahrelang in Zeltstädten hausen, wie es bei früheren Naturkatastrophen in Italien oft der Fall war. Es werde Holz-Häuschen für alle geben. Bis Weihnachten, allenfalls binnen sechs, sieben Monaten.
Heute, ein Jahr danach, stehen von den benötigten rund 3800 Unterkünften nicht einmal 500. Von denen ist freilich nur die Hälfte bewohnt. Dagegen hausen die meisten Betroffenen noch immer in Containern und Wohnwagen oder, weit weg, in Hotelzimmern.
Amatrice 2016, L'Aquila 2009, Gibellina und Poggioreale 1968 - regelmäßig versagt der italienische Staat, wenn es darum geht, die Bürger nach Erdbeben zu versorgen. Auch die Opfer der aktuellen Katastrophe auf der Urlaubsinsel Ischia können kaum auf schnelle, unbürokratische Hilfe hoffen.
Amatrice sieht heute immer noch fast genauso aus wie wenige Tage nach der Katastrophe: Die zu Schutt gewordenen einstigen Häuser sind fein säuberlich von den Straßen geräumt, rechts und links zu Halden getürmt. Der Abtransport klemmt, man weiß nicht, wohin mit den Massen an Sondermüll.
Die Katastrophe und die Aufräumer haben schaurig-schöne Bilder produziert, die Touristen anziehen, die Selfies knipsen. Die Prominente anziehen, die sich knipsen lassen. Englische Adlige sind dabei, Politiker-Granden aus aller Welt, auch der Papst. Star-Regisseur Paolo Sorrentino hat vor der Kulisse des Grauens sogar ein paar Szenen für seinen nächsten Firm gedreht.
Derweil warten die einstigen Bewohner von Amatrice und den vielen zerstörten Dörfern ringsherum, dass endlich irgendetwas vorangeht. Es sei "eine moralische Pflicht", hatte der römische Regent Renzi immer wieder "unter Tränen" versichert, "diese Ortschaften für die jetzt obdachlos gewordenen Menschen wieder aufzubauen".
Keine Hilfe ohne Kassenbeleg
Doch die werden wohl noch ein Weilchen warten müssen. Denn nach den Politikern und ihren Versprechungen kommt die berüchtigte italienische Verwaltung. Und wenn die in Rom Monate, mitunter mehr als ein Jahr braucht, um den Wohnortwechsel eines Menschen zu verbuchen, braucht sie für die Verwaltung von mehr als 22.000 obdachlosen Menschen und dazu noch 200.000 zerstörten Gebäude schon rechnerisch eine Ewigkeit. Das heißt, sie wird niemals damit fertig.
Kiloschwere Formularpakete müssen erstellt, gepackt, verteilt, ausgefüllt und so abgelegt werden, dass man sie möglichst nie wiederfindet. Es müssen Ausschreibungen vorbereitet werden, die verhindern sollen, dass Mafia-Firmen sich die lukrativen Bauaufträge schnappen und für teures Geld billige Häuser bauen, die beim nächsten Erdstoß gleich wieder zusammenbrechen. Aber am Ende sind die Mafia-Firmen sowieso oft die einzigen, die den komplizierten Ausschreibungsaufwand beherrschen. Oft haben sie auch die besten Beziehungen.

Erdbeben in Italien: Viel versprochen, nichts gehalten
Und dann muss man ja auch noch all jene Gesetze beachten, die das Land im Griff halten: Vom Umweltschutz, der die kleinteilige Sortierung des Bauschutts vorschreibt, über Kulturschutzvorschriften, die kulturverdächtige Trümmerteile dem zuständigen Ministerium unterstellt, bis zu den Steuergesetzen natürlich. So kann ein kleines, aus Containern gebildetes Ladenzentrum, das am Rand im Erdbebengebiet auf seinen Einsatz als Lebensmittelladen wartet, leider nicht in Betrieb genommen werden. Das Relikt aus einem früheren Katastropheneinsatz in Norditalien, das ehrenamtliche Helfer kostenlos anfuhren, passt nicht in die Liste abschreibungsfähiger Ausrüstungen, es hat ja nicht einmal einen Kassenbeleg.
Das bröckelnde Wunder von Silvio Berlusconi
Die Menschen in Amatrice und Umgebung sind verzweifelt. Aber sie wissen vielleicht gar nicht so genau, was ihnen noch alles bevorsteht. Dabei müssten sie nur über ein paar Berge nach L'Aquila schauen. In der Hauptstadt der Abruzzen-Region waren am 6. April 2009 bei einem Erdbeben 309 Menschen ums Leben gekommen, die 70.000-Einwohner-Stadt wurde schwer beschädigt, teilweise zerstört.
Damals regierte noch Silvio Berlusconi Italien. Er versprach sogleich "ein Wunder": Tausende von neuen Wohnungen "binnen 100 Tagen".
Im Video: Erdbebengebiet Italien - "Ein zweites Pompeji wäre möglich"
Und tatsächlich, fast zweihundert zweistöckige Häuser ließ er in der Peripherie von L'Aquila zügig hochziehen, von ihm "new town" getauft. Es dauerte dann zwar doch vier Jahre, bis sie bezugsfähig waren. Aber ein Rekord war es gleichwohl.
Allerdings war auch der bald einsetzende Zerfall der Berlusconi-Siedlungen rekordverdächtig. Manche Schnellbauten lösten sich auf, andere liefen voll Wasser, verloren Balkons. Schon bald zogen viele Bewohner, die irgendeine Alternative fanden, weg aus der "new town".
Die Staatsanwaltschaft ermittelt unter dem Verdacht von Bestechung und Betrug bei den Ausschreibungen. Medien berichteten immer wieder über mutmaßliche Verbindungen von Politik und Mafia.
In der eigentlichen Stadt, der "old town", sind heute, nach acht Jahren, etwa 20 Prozent der Häuser wieder bewohnbar, die geschichtsträchtige Stadt ist noch immer eine riesige Baustelle, mit vielen Kränen und Ruinen. Die meisten jungen Leute sind längst emigriert. Die Universität ist zwar wieder geöffnet, aber es sind kaum Studenten da. Nur der Bürgermeister ist optimistisch, bis 2022 müssten "99 Prozent von L'Aquila rekonstruiert sein", sagt er.
Zehn Jahre warten auf die Kunst
Damit wären die Bewohner der sizilianischen Städte Gibellina und Poggioreale mehr als zufrieden gewesen. Ihre Heimat fiel 1968 einem Erdbeben zum Opfer. Dabei starben etwa 900 Menschen. Poggioreale blieb eine Geisterstadt, schön schaurig, wie Amatrice heute.
Die Bewohner, die konnten, zogen fort. Manche wohnten mit den Nachbarn aus Gibellina zehn Jahre lang in provisorischen Holzunterkünften. So lange dauerte es, bis das "neue Gibellina", neun Kilometer entfernt, bezugsfertig wurde. Eine hübsche kleine Stadt, mit rechtwinklig angeordneten Straßen, planmäßig verteilten Plätzchen und Bäumen, und gleich mehreren interessanten Museen. Viele Künstler haben bei dem Stadtbau mitgewirkt. Gibellina gilt als Stadt mit der höchsten Dichte moderner Kunst in Italien.
Nur die einheimischen Menschen, die Gibellinesi, wollten in der Reißbrett-Welt nicht wohnen. Die neue Stadt blieb weitgehend leer. Ein paar Römer haben sich später die Wohnungen für ihre Ferien in Sizilien irgendwie besorgt und auch andere haben sich dort niedergelassen. Aber wenige, die Stadt der Architekten und Künstler ist menschenarm. Und von der üppigen kulturellen Ausstattung ist auch das eine oder andere im Zerfallsprozess.
Die Ruinen der alten Stadt Gibellina wurden von einem Künstler teilweise mit einer dicken Schicht aus weißem Beton überzogen, somit begraben und erhalten. Dazwischen kann der Besucher durch die alten Gassen wandern und sich auch dort hübsch gruseln.
Ja, von Kunst verstehen die Italiener viel.