Kritik am britischen Labour-Star Jeremy Corbyn Zu links, zu verbohrt, zu verdammt erfolgreich

Überraschende Labour-Hoffnung Jeremy Corbyn: Das Ende von New Labour?
Foto: PETER NICHOLLS/ REUTERSTony Blair wirkt ziemlich verzweifelt. "Ich verstehe es einfach nicht", schreibt der britische Ex-Premier im "Observer". Obwohl er sich doch wirklich Mühe gebe, es zu verstehen.
Was Blair nicht versteht, ist die "Corbymania", die Teile Großbritanniens erfasst hat. Und die ist ja auch ein ganz und gar ungewöhnlicher Trend: Es geht dabei um einen 66-jährigen Altlinken mit weißem Bart, der seit 32 Jahren im britischen Parlament sitzt, ohne dass eine breitere Öffentlichkeit davon Notiz genommen hätte - und der nun plötzlich zum größten Hoffnungsträger der mitgliederstärksten Partei des Landes geworden ist.
Am 12. September will die britische Labour-Party einen neuen Chef wählen, der den glücklosen Ed Miliband ersetzen und dem konservativen Premierminister David Cameron Paroli bieten soll. Und wie es aussieht, möchte die Mehrheit der Mitglieder diese Aufgaben tatsächlich auf Corbyns schmale Schultern legen. Das wäre ungefähr so, als würde die SPD in Deutschland Rudolf Dreßler zum Kanzlerkandidaten küren.
Corbyn ist ein klassischer Linker der Achtzigerjahre - als Labour gegen die Herrschaft von Margaret Thatcher kämpfte. Er will, dass Großbritannien aus der Nato austritt, geschlossene Kohlebergwerke wiedereröffnet und Energieversorger verstaatlicht werden. Reiche und Konzerne sollen höhere Steuern zahlen - und die Bank of England soll Geld drucken, um Infrastrukturausgaben zu finanzieren.

Ist New Labour passé? Ex-Premier Tony Blair warnt vor einem Linksruck der Partei
Foto: © Ronen Zvulun / Reuters/ REUTERSDas alles ist so ziemlich genau das Gegenteil dessen, wofür Tony Blair immer stand - der Mann, der in den Neunzigerjahren New Labour erfunden hat, eine wirtschaftsfreundliche Variante der Sozialdemokratie, die den Klassenkampf links liegen ließ, die Partei dafür aber wieder in die Regierung führte.
"Das Einzige, was zählt, ist, dass sich alles gut anfühlt"
Entsprechend sieht Blair nun sein Reformer-Erbe in Gefahr: Er vergleicht das Phänomen Corbyn mit den Umfrageerfolgen von Donald Trump in den USA oder Marine Le Pen in Frankreich. Corbyns Anhänger agierten in einer "Alice-im-Wunderland-Welt", in einer "hermetisch geschlossenen Blase", in der Vernunft und Beweise nichts zählten und stattdessen die emotionale Wirkung entscheidend sei. "Das Einzige, was zählt, ist, dass sich alles gut anfühlt", schreibt Blair im "Observer".
Es ist nicht Blairs erster Angriff gegen Corbyn. Schon im Juli hatte der Ex-Premier gelästert, Genossen, deren Herz für Corbyn schlage, sollten besser über eine Organtransplantation nachdenken.

Seit 32 Jahren im Parlament: Corbyn, so seine Gegner, sei ein Linker der Thatcher-Zeit
Foto: Facundo Arrizabalaga/ dpaDamit hat Blair auf jeden Fall den wirtschaftsliberalen Teil der britischen Öffentlichkeit des Landes auf seiner Seite. "Ohne Wenn und Aber - Corbyn wird für Labour zur Katastrophe", schrieb jüngst "Financial Times"-Kolumnist Janan Ganesh. Und der "Economist" warnte, Labour werde sich mit Corbyns Wahl selbst "in die Wildnis" schicken.
Doch mit jedem öffentlichen Angriff auf Corbyn werden seine Anhänger gestärkt im Glauben an ihren weißbärtigen Heilsbringer. Sie haben genug von der jahrelangen Sparpolitik der konservativ-liberalen Regierung. Die Wirtschaft des Landes wächst nach der schweren Krise der Jahre 2008 und 2009 zwar wieder ordentlich. Doch bei der normalen Bevölkerung kommt davon kaum etwas an. Rechnet man die Inflation mit ein, liegen die Löhne noch immer rund neun Prozent niedriger als zu Beginn der Krise vor sieben Jahren.
Kein Wunder also, dass linke Bewegungen Zulauf haben, ähnlich wie Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland. Mit deren Chef Alexis Tsipras wird Corbyn denn auch oft verglichen - obwohl die beiden nicht nur ein Altersunterschied von 25 Jahren, sondern auch eine große Portion Charisma trennt. Während Tsipras seine Landsleute in pathetischen Reden mitreißt, hält Corbyn gerne längliche Vorträge und wirkt dabei laut SPIEGEL-Korrespondent Christoph Scheuermann eher wie ein melancholischer Erdkundelehrer, nicht wie ein Kandidat für die Downing-Street.
Viele Labour-Mitglieder scheint das nicht abzuschrecken. In den Umfragen kam Corbyn zuletzt auf mehr als 53 Prozent - 32 Prozentpunkte vor seinem stärksten Konkurrenten.