

Von seinem früheren Leben ist Sherzad Khalaf kaum etwas geblieben. In einer weißen Sporthose, blauem T-Shirt und Turnschuhen hockt der 25-Jährige auf dem staubigen Hof der Khanki Secondary School, sein Mobiltelefon und ein kleines Fotoalbum hält er fest umklammert. Als die Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) kamen, erzählt der junge Mann, habe er nur wenige Minuten gehabt. Er konnte noch seinen Vater und seine Mutter aus dem Haus zerren. Dann rannten sie weg aus Ozeer, ihrem kleinen Dorf rund 15 Kilometer südlich des Sindschar-Gebirges im Nordirak.
Wenn Sherzad Khalaf vom 3. August erzählt, wirft er Selbsterlebtes und nur Gehörtes durcheinander. Er berichtet von bärtigen Kämpfern, die seine Nachbarn auf der Straße geköpft haben, die alle jungen Frauen zusammengetrieben und dann verschleppt haben. Zwischendurch tippt er auf seinem Mobiltelefon herum, versucht seinen Bruder zu erreichen, den er seit der Flucht nicht mehr gesehen hat.
Sherzad Khalaf ist einer von rund 800 Jesiden in der Schule nahe der Großstadt Dohuk. Sie alle stammen aus der selben Gegend, kaum einer hat mehr als eine Plastiktüte mit Habseligkeiten retten können. Viele begreifen erst jetzt, was ihnen eigentlich widerfahren ist.
Tagelang, berichtet Khalaf, seien er und seine Eltern bei sengender Hitze über das Bergmassiv weiter in Richtung Norden gelaufen. Abends aßen sie ein kleines Stück Brot, jeder bekam eine Verschlusskappe voll aus der Wasserflasche. Immer wieder hätten sie in den Bergen Leichen gesehen. Niemand habe Zeit gehabt, die Toten zu beerdigen, denn alle liefen um ihr Leben. Nach sechs Tagen trafen sie auf eine Gruppe Soldaten einer kurdisch-syrischen Volksverteidigungsmiliz. Die Kämpfer gaben ihnen Wasser und schickten sie in Richtung Derek in Syrien. Von dort gelangten sie weiter nach Dohuk.
"Ohne internationale Hilfe droht eine Katastrophe"
Wie vielen der Jesiden die Flucht über den Korridor nach Syrien gelang, den die Milizen freigemacht haben, weiß derzeit niemand genau. Die Uno schätzt, dass in Dohuk 200.000 Flüchtlinge aus den Dörfern südlich vom Sindschar-Gebirge angekommen sind. Viele sind wie Sherzad Khalaf in behelfsmäßigen Lagern, Schulen oder bei Einwohnern von Dohuk untergekommen. Zeltlager und aus Müll zusammengebastelte Unterkünfte säumen die Straßen der Stadt. Und noch immer kommen neue Gruppen an.
Der Gouverneur von Dohuk, Farhad Amin Atruschi, hat den Notstand ausgerufen. Schon vor der Ankunft der Jesiden hat er Zehntausende Flüchtlinge aus dem Syrien-Krieg in seiner Stadt untergebracht, nun weiß er nicht mehr, wohin mit den Menschen. In einigen Wochen werde er die Schulen wieder öffnen, bis dahin müssten Zeltstädte für die Flüchtlinge errichtet werden. "Ohne internationale Hilfe werden wir das hier nicht schaffen, sonst droht eine humanitäre Katastrophe", sagt er.
Atruschi rechnet nicht damit, dass die Jesiden bald wieder nach Hause können: "Sie werden lange, vielleicht sogar für immer, hier bleiben wollen." Auch Sherzad macht sich keine Illusionen: "Wir haben unsere Heimat für immer verloren", sagt er, "nach dem, was passiert ist, können wir nie wieder in Sicherheit am Fuß des Sindschar-Bergs leben."
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Flüchtlinge der Jesiden-Minderheit in Dohuk: Die meisten haben nur eine Plastiktüte mit Habseligkeiten gerettet.
Nach den tagelangen Märschen durch die glühende Hitze begreifen viele erst jetzt, was ihnen widerfahren ist. Sie werden so bald nicht nach Hause zurückkehren können, denn dort regiert jetzt die Terrormiliz "Islamischer Staat".
Jesidische Flüchtlinge (am 11. August): Rund 1000 Menschen sollen sich noch im Sindschar-Gebirge im Nordirak aufhalten - deutlich weniger, als bisher vermutet.
Jesidische Familie in Fisch Chabur: Ein Sprecher des Pentagon sagte, eine Evakuierungsaktion sei nach den neuen Erkenntnissen "viel weniger wahrscheinlich".
Ein Hubschrauber landet auf der "USS George H.W. Bush" (Archivbild): Von hier starteten auch die Spezialeinheiten, die nach Erkundungen im Sindschar-Gebirge zu dem Schluss kamen, dass sich dort wesentlich weniger Menschen befänden als zunächst angenommen, meldet das Pentagon. Nach Luftschlägen der USA sei vielen gelungen, der Belagerung durch die IS-Terrormilizen zu entkommen.
Packen für die humanitären Hilfslieferungen (Archivbild): Die Verfolgten seien nach Abwürfen von Nahrung und Wasser durch US-Militärs besser versorgt als noch vor einigen Tagen, teilte Pentagonsprecher John Kirby mit. Die irakische Armee fliegt die Gegend seit Tagen mit wenigen Hubschraubern an, um Wasser, Essen und Medikamente abzuwerfen und Menschen aufzunehmen.
Angehörige der Jesiden demonstrierten an der Grenze für eine Rettungsaktion. "Rettet uns vor dem Islamischen Staat" steht auf einem Pappschild.
Ein Film einer Rettungsmission sorgte am Mittwoch für Aufsehen: Der österreichische Grünen-Politiker Michel Reimon begleitete einen Hilfsflug für Jesiden. Seine Aufnahmen zeigen, wie verzweifelt Dutzende Menschen versuchen, an Bord des Hubschraubers zu klettern. Einige schaffen es an Bord, viele nicht.
Andere wiederum haben sich auf den beschwerlichen und gefährlichen Fußweg aus den Bergen gemacht.
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