Pressestimmen zur Biden-Inauguration »Ist das gerade wirklich passiert?«

Joe und Jill Biden auf dem Balkon des Weißen Hauses
Foto:TOM BRENNER / REUTERS
Das Ende der Ära Donald Trump im Weißen Haus sorgt international für Erleichterung. Der neue Präsident Joe Biden erntet Lob – steht nach Ansicht vieler Kommentatorinnen und Kommentatoren aber auch vor schweren Aufgaben.
Die »Washington Post« aus der amerikanischen Hauptstadt meint zur Rede des neuen Präsidenten:
»Die Ansprache war eher authentisch für Biden als rhetorisch anspruchsvoll, diese Merkmale widersprechen sich in der Regel. Sie sollte einen Eindruck davon vermitteln, was der Präsident für ein Mann ist – zuversichtlich, unverblümt, praktisch veranlagt, offenherzig. Die Rede war ein rhetorisches Röntgenbild. Sie zeigte, dass Bidens Herz am rechten Fleck sitzt – etwas, das man bei Trumps fremder Anatomie nicht annehmen konnte.«
Eine CNN.com-Autorin kommentiert:
»Ist das gerade wirklich passiert? War alles nur ein Traum? Als ich meine Familie versammelte, um die historische Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris zu verfolgen, nahm das Ereignis eine surreale Atmosphäre an. Barack und Michelle Obama waren da und sahen aus, als seien sie keinen Tag gealtert. Auch George W. Bush war da und begrüßte seine alten Freunde per Ellbogen. Und die Clintons, die in gewisser Weise Washington, D.C., nie verlassen zu haben scheinen.
Es war ein Rückblick auf eine frühere Ära, eine Ära vor dem ›Amerikanischen Gemetzel‹. Weg waren die Wut und die Teilung. Niemand sagte, Amerika müsse wieder ›great‹ gemacht werden. Die mit nervenaufreibender Angst gefüllte Luft war weggeblasen. Nicht einmal das Kapitolgebäude zeigte Narben seiner Erstürmung vor gerade einmal zwei Wochen.«
Das »Wall Street Journal« aus New York schreibt:
»Alle Amerikaner, welcher Partei sie auch immer angehören, können auf die Amtseinführung von Präsident Joe Biden am Mittwoch stolz sein. Die friedliche Machtübergabe von einer Partei zur anderen ist ein Zeichen der grundlegenden demokratischen Stärke, ungeachtet unserer derzeitigen politischen Verstimmung. (...)
Das übergreifende Motto war ›Einigkeit‹, die er als ›unseren künftigen Weg‹ bezeichnete. Seine beste Äußerung zu diesem Thema war der Aufruf, ›neu anzufangen‹ und einander zuzuhören. (...) Doch in diesem Aufruf zur Einigkeit steckte auch zu viel von der Vorstellung, dass wir verpflichtet sind, uns um einen Standpunkt herum zu versammeln. (...) Der Gradmesser für Mr. Bidens Einheitsgelöbnis wird darin bestehen, wie er regiert. Wir werden ihm einen Vertrauensvorschuss geben, den jeder neue amerikanische Präsident verdient.«
Die Wiener Zeitung »Der Standard« meint:
»Es ist, als müsste man im fahrenden Auto auf der Autobahn die Räder wechseln. So beschrieb ein Politologe der US-Universität Berkeley kürzlich die Herausforderung, vor der der neue US-Präsident Joe Biden steht. Jeder dritte Wähler erkennt ihn nicht als seinen Präsidenten an, Republikaner und Demokraten im Kongress haben vier Jahre heftigen Kampfes hinter sich, die Moral im Land ist auf dem Tiefpunkt, die Wirtschaft im Sinkflug und die Corona-Pandemie noch nicht annähernd ausgestanden. In absoluten Zahlen gemessen sind die Vereinigten Staaten wegen bisher fehlender Strategien das Land mit den meisten nachgewiesenen Ansteckungen und Todesfällen. Eine Mission Impossible also? Die Ausgangslage ist jedenfalls düster.
Gute Vorsätze hat die neue US-Regierung zur Genüge. Als »Heiler« tritt der idealistische Joe Biden an, auch in seiner Antrittsrede beschwor er Einheit und Zusammenhalt. Dass Biden den eingefleischten Wählerinnen und Wählern Donald Trumps mit Versöhnungsgesten die Ängste nehmen kann, die der Populist geschürt und bedient hat, ist unwahrscheinlich.«
Die Warschauer Zeitung »Rzeczpospolita« thematisiert die Rolle Bidens für Osteuropa:
»Das Amerika unter Joe Biden ist für Polen und die Staaten in der Region die beste Versicherung. Nichts deutet darauf hin, dass die neue US-Regierung uns das Gefühl der Sicherheit nehmen will. Dass sie etwa die Militärpräsenz verringern will oder – keine Frage der Sicherheit, aber des Selbstwertgefühls – etwa die Visapflicht für Polen wieder einführt, die Trump abgeschafft hatte.
Für Polen und seine Nachbarn ist außerdem wichtig, dass Biden und seine Mannschaft dem Schicksal von Belarus und der Ukraine nicht gleichgültig gegenüberstehen, anders als Trump und die europäischen Spitzenpolitiker. Biden weiß, welche Ängste und Erwartungen es in den Staaten der Region von Estland bis Rumänien gibt. Ihre proamerikanische Haltung kann er mit geringen Kosten erhalten.«
Das Lissabonner Blatt »Público« spielt auf das Wetter in Washington an:
»An diesem kalten und sonnigen Tag in Washington sind die Vereinigten Staaten einen illiberalen und unanständigen Führer losgeworden und haben die Tür für neue Hoffnungen geöffnet. Diese einfache Veränderung reicht aus, um diesen Mittwoch zu einem der wenigen hellen Tage in diesen grauen Zeiten zu machen.

Blauer Himmel in D.C.: Feiertag für Amerika
Foto:POOL / REUTERS
Wie in anderen Augenblicken der jüngeren Geschichte, ob Vietnam oder Irak, müssen sich die Vereinigten Staaten für einen Neustart auf ihre Dynamik und die Stärke ihrer Institutionen verlassen. Die Wunden des Rassismus müssen geheilt und politische Extreme auf der Straße und im Parlament zusammengeführt werden, um eine zunehmend ungleiche, ungerechte und empörte Gesellschaft zu einen.
Das Gefühl muss wiederhergestellt werden, dass die USA den Auftrag haben, Vorbild für liberale Demokratien zu sein, denn das macht sie im Grunde aus. Das Land muss sich auf seinen demokratischen Kern besinnen. Auch, damit Washington aufhört, den in Europa wachsenden Rechtsradikalismus zu inspirieren. Der von politischen Idealen, gemeinsamen Werten und Erinnerungen geprägte Westblock braucht diese beständige Kraft in einer Welt, die auf Chaos zusteuert.«
Bei der »NZZ« aus Zürich heißt es über Biden:
»Er rückte einen eindringlichen Appell an Einigkeit im Land ins Zentrum seiner ersten Rede als Präsident und wirkte dabei ebenso echt wie optimistisch. Tatsächlich sendet Washington mit diesen versöhnlichen Worten und dieser mit Pomp inszenierten Feierstunde der Demokratie ein kraftvolles Zeichen an die Welt – auf den Tag zwei Wochen nach den beschämenden Bildern vom gleichen Ort. Doch die Asche des Feuers, das Trump entfacht hat, wird noch lange glühen.
Mehr als die Hälfte der Republikaner halten die Wahl vom November für manipuliert und zweifeln damit die Legitimität des neuen Präsidenten an. Das ist eine Hypothek; sie macht die ohnehin gewaltige Herausforderung noch größer. Biden hat ein Land übernommen, das in der tiefsten Krise der jüngeren Vergangenheit steckt und dessen Selbstverständnis erschüttert ist. Um die Nation zu ›heilen‹, wie er es versprochen hat, braucht er den Rückhalt aller.«
Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« schreibt zur Inauguration Joe Bidens:
»Seine Erleichterung sei groß, sagte der Bundespräsident, dass Joe Biden jetzt ins Weiße Haus einziehe. So wie er hat die große Mehrheit der Europäer dem Machtwechsel in den Vereinigten Staaten entgegengesehen, wenn nicht, nach den jüngsten Ereignissen, sogar entgegengefiebert. (...) In dieser Sicht froher Erwartung drückt sich die ganze Erleichterung darüber aus, dass die Trump-Zeit endlich vorüber ist und man vor dem Neubeginn einer Partnerschaft steht, die in den vergangenen vier Jahren ebenso heftig gelitten hat wie das Ansehen der Vereinigten Staaten.
Man muss nicht gleich unken, doch wie weit das neue Glücksgefühl trägt, wird man spätestens dann wissen, wenn die neue Mannschaft ihre Arbeit aufgenommen hat und der Regierungsalltag eingekehrt ist – wenn das Pathos den Interessen weicht.«
In der »Süddeutschen Zeitung« aus München heißt es:
»Joe Biden hat sich an dem Tag, an dem er seinen Aufstieg zum Präsidenten und damit das Erreichen seines Lebensziels hätte feiern können, darum gekümmert, dass Mieter, die wegen der Pandemie ihren Job verloren haben, ihre Wohnungen trotz säumiger Zahlungen nicht verlieren, und dass Studierende studieren können, obwohl sie die Gebühren gerade nicht bezahlen können. Er hat sich an seinem ersten Tag um das Große und um das Kleine gekümmert. Er war nicht ein Mann des Wortes oder des Schmerzes. Er war ein Mann der Tat.
Es ist gut möglich, dass die amerikanische Gesellschaft zu viel Schaden genommen hat, um repariert werden zu können. Aber wenn man es, mit ein wenig Optimismus, einem Menschen zutrauen kann, diesen Schaden zumindest teilweise in den Griff zu bekommen und in einen erfreulichen Januar 2022 zu überführen, dann ist es der 78 Jahre alte Joe Biden, der in seiner langen Karriere vor allem eines gelernt zu haben scheint: was wirklich wichtig ist.«
Der Berliner »Tagesspiegel« kommentiert den Machtwechsel so:
»Erleichterung, Freude, Hoffnung. Donald Trump ist Geschichte, ohne letzte Gewaltausbrüche. Mit Joe Biden kehren Zivilität und Respekt zurück. Im Jubel über die neue Präsidentschaft ist die Ernüchterung freilich bereits angelegt, getreu der Devise ›You campaign in poetry, you govern in prose‹.
Denn der 78-jährige Joe Biden muss einen dreifachen Spagat vollbringen, um die Klüfte zwischen Erwartungen, Wollen und Können zu überbrücken. (...) Versöhnung der Lager? Natürlich ist es richtig und geboten, dass Biden die Menschen einlädt, die ihn nicht gewählt haben, und ihnen verspricht, auch ihr Präsident zu sein. Die Erfolgsaussichten sind zwar gering, aber der Stilwechsel ist ein Wert an sich.«