


Die Lage: USA 2021 Joe Biden, der TV-Therapeut

Liebe Leserin, lieber Leser,
heute beschäftigen wir uns mit Joe Bidens erster Town Hall als Präsident, mit der Krise der Republikaner – und mit der Frage, was schöner ist: Mar-a-Lago oder Camp David?
Die Amerikaner lieben ihre Fernsehtherapeuten. »Dr. Phil« ist für Ehekrach zuständig, »Dr. Oz« für dubiose Diätpillen und Oprah Winfrey, die Hohepriesterin der Branche, für Popkultur und Königshäuser.
Am Dienstagabend debütierte hier ein neuer TV-Therapeut: Joe Biden. Bei seiner ersten Bürgerversammlung als Präsident – in den USA Town Hall Meeting genannt – stellte der sich in Milwaukee vor CNN-Kameras den Fragen der Bürgerinnen und Bürger – und massierte die wunde Psyche der Nation.
Coronakrise, Rassismus, Polizeigewalt, Terror, Spaltung und – wie sollte es anders sein – Bidens Vorgänger: Obwohl erst vier Wochen im Amt, bemerkte CNN-Moderator Anderson Cooper, müsse Biden schon mit »mehreren Krisen« gleichzeitig jonglieren – und Donald Trumps beharrliche Präsenz im Off ist eine der harmloseren.

Fragen über Fragen: Biden und CNN-Moderator Cooper bei der Town-Hall-Sendung
Foto: Evan Vucci / APWas mir freilich am meisten auffiel, war der Ton des neuen Präsidenten. Keine Tiraden, keine krassen Lügen, kein endloses Eigenlob. Biden war seriös und authentisch, was auch mal hieß, dass er sich in Satzlabyrinthen verlief. Man kann ihn als Politiker ablehnen, doch beim besten Willen nicht als Mensch. Macht uns das wiederum zu besseren Menschen? Hoffentlich. Wahnwitziger Gedanke, nach vier Jahren Trump.
So sprach er Cooper gleich zur Begrüßung ungefragt auf dessen neun Monate alten Sohn an: »Jeder weiß, dass ich Kinder lieber mag als Leute.« Später beruhigte er eine Achtjährige, deren Mutter ihm eine Frage nach Covid-19 stellte: »Hab keine Angst, Honey, alles wird gut.«
600 Millionen US-Impfdosen
Natürlich wird nicht alles gut, gerade was die US-Coronakrise angeht. Fast eine halbe Million Amerikaner ist gestorben, das Impfprogramm auch hier in weiten Teilen des Landes ein ziemliches Debakel, gerade in New York City, wo ich lebe: keine leichte Ausgangslage für Biden.
Biden leugnete das nicht. Bis Ende Juli, versprach er zwar, würden die USA über 600 Millionen Vakzindosen verfügen, »genug, um jeden einzelnen Amerikaner zu impfen«. Wann dieses Mammutprojekt allerdings vollendet sei, das wollte, das konnte er nicht sagen.

Ziemliches Debakel: Warteschlange vor einem Impfzentrum in New York
Foto: Mary Altaffer / APAuch die Town-Hall-Sendung fand unter strengen Corona-Regeln statt, in einem historischen Theater in Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin, das zuletzt im März geöffnet gewesen war. Gerade mal 50 Gäste kauerten distanziert im Publikum, alle trugen Masken. Nur Biden – der geimpft ist – und Cooper – der morgens negativ getestet wurde – trugen keine.
»Wo zum Teufel sind wir?«
Wenn nötig, wurde Biden laut – und eindeutig. Er verurteilte Rechtsextreme und Rassisten als »Wahnsinnige« und »gefährliche Menschen«. Er wurde emotional, als er über Amerika als Heimat für Asylsuchende und Geflüchtete sprach. Er machte klar: Trump ist vorbei.
Einer Frau, die sich um ihren lungenkranken Sohn sorgte, bot Biden an, ihr nach der Sendung persönlich zu helfen. Zwischenapplaus machte ihn verlegen. Wie es sei, im Weißen Haus zu wohnen? »Ich stehe morgens auf und sage zu Jill: Wo zum Teufel sind wir?«
Nur einen Seitenhieb gegen Trump erlaubte er sich: Alle noch lebenden Vorgänger hätten ihn inzwischen angerufen und ihm Rat angeboten – »alle bis auf einer«.
»Ich bin es müde, über Donald Trump zu reden«, sagte Biden und sprach damit wohl vielen Amerikanern aus der Seele. Auch ich bin froh, mich endlich nicht mehr nur noch mit Trump beschäftigen zu müssen. Es gibt viele wichtige Themen, die während seiner vierjährigen Chaosherrschaft auf der Strecke blieben, politisch wie journalistisch.
Was am 6. Januar wirklich passierte
Der Kongress allerdings kann den Angriff aufs Kapitol nicht so schnell vergessen, darf er auch nicht. Ein überparteilicher Untersuchungsausschuss soll jetzt die Hintergründe offenlegen – darunter auch die Beteiligung von Extremisten, Lokalpolitikern, Soldaten und Polizisten. Ein entsprechendes Gesetz wird noch dieser Woche erwartet. Vorbild ist die 9/11-Kommission, die die Terroranschläge von 2001 mit spektakulären Anhörungen und einem bahnbrechenden Bericht untersuchte.
Auch anderswo wird die Aufarbeitung noch lange weitergehen. Die afroamerikanische Bürgerrechtsorganisation NAACP hat die erste Zivilklage gegen Trump, seinen Ex-Anwalt Rudy Giuliani und die rechtsextremen Gruppen Proud Boys und Oath Keepers erhoben. Ja, Sie haben richtig gelesen – Ex-Anwalt: Trump hat sich von dem New Yorker Ex-Bürgermeister, seinen Verschwörungstheorien und seiner schmelzenden Haartinktur getrennt. Rette sich, wer kann.
Die Vorwürfe der Klage: Verschwörung, Anstiftung und Verstoß gegen das Ku-Klux-Klan-Gesetz von 1871, das es verbietet, staatliches Vorgehen gegen rassistische Gewalt zu behindern. Die ganze Klageschrift können Sie hier nachlesen – es lohnt sich, allein um zu verstehen, was am 6. Januar wirklich passierte.

Aufarbeitung geht weiter: Angriff aufs Kapitol im Januar
Foto: JOSEPH PREZIOSO / AFPDerweil schreibt Watergate-Legende Bob Woodward bereits an seinem nunmehr dritten Trump-Enthüllungsbuch, es handelt von dessen letzten Wochen im Amt. Die beiden vorherigen Trump-Bestseller Woodwards, die dramatische Insiderszenen offengelegt hatten, hießen »Furcht« und »Angst«. Das neue Werk hat noch keinen Titel. Wie wär's mit »Verrat«?
»Bizarre Anbetung eines einzigen Typen«
Verrat ist ein Motiv, das auch die Republikaner gerade umtreibt. Sie zerreißen sich über die Frage, ob sie Trump hinter sich lassen sollen oder ihm (und seinen QAnon-Jüngern) weiter hörig sind, und taumeln in eine Sinn- und Existenzkrise. Wer beim Impeachment gegen Trump war, spürt nun Gegenwind von der Basis. Adam Kinzinger, einer von zehn Republikanern, die im Repräsentantenhaus für das Impeachment-Verfahren gestimmt hatten, bekam sogar einen zweiseitigen Brandbrief von einer Cousine: »Was für eine Enttäuschung bist du für uns und für Gott!«, hieß es in dem Schreiben, das auch der »New York Times« zugespielt wurde.
Richard Burr aus North Carolina und Bill Cassidy aus Louisiana, die im Senat gemeinsam mit fünf Parteifreunden und den Demokraten für den Schuldspruch gestimmt hatten, wurden von ihren Landesparteien offiziell gerügt. Ähnliche Pläne gibt es gegen Susan Collins (Maine) und Ben Sasse (Nebraska). »Nur zu«, forderte Sasse seine Kritiker in einem Video heraus: Er verweigere »die bizarre Anbetung eines einzigen Typen«.
Dieser Typ sitzt mittlerweile im sonnigen Exil in Florida. Dort empfängt er Republikaner, die vor ihm katzbuckeln, und diktiert Breitseiten gegen missliebige Republikaner wie Mitch McConnell (in einer schärferen, doch verworfenen Version dieses Statements soll sich Trump sogar darüber mokiert haben, dass McConnell »zu viele Kinne« habe).
Öffentlich gesichtet wurde Trump zuletzt am Wochenende, als er sich zum Golfen kutschieren ließ – vorbei an jubelnden Fans, die zu seiner Belustigung bestellt worden waren, doch auf der anderen Seite der Brücke bleiben mussten, auf der schäbigeren Seite von West Palm Beach.
Termine der Woche
So viel steht fest: Im Weißen Haus hat wieder die Normalität Einzug gehalten. Biden twittert nicht, hält sich strikt an den Terminkalender, ist meist pünktlich, lässt sich täglich den Geheimdienstbericht vorlesen, beantwortet Wählerpost und geht – anders als Trump und dessen Vorgänger Barack Obama – zeitig zu Bett. Für uns Journalisten bedeutet das: Keine schlaflosen Nächte mehr, in denen man den nächsten, weltbewegenden Tweet erwartet. Wenn Bidens Presseteam abends per E-Mail ein »lid« verkündet, also den Feierabend, dann ist auch wirklich Feierabend.

Geregelte Arbeitszeiten: Biden auf dem Weg ins Oval Office
Foto: Evan Vucci / APSeiner Reise nach Wisconsin folgt am Donnerstag ein Abstecher nach Michigan, wo Biden eine Pfizer-Fabrik besuchen will, in der Corona-Impfdosen hergestellt werden. Am Freitag nimmt er dann an der Corona-bedingt verkürzten Münchner Sicherheitskonferenz teil – wenn auch nur virtuell. Trump hatte das immer an andere abgewälzt, er hasste solche Treffen.
Social-Media-Moment der Woche
Trump hasste auch Camp David, wo einige davon stattfanden. Der präsidiale Landsitz bei Washington war ihm zu rustikal und vor allem nicht protzig – oder kitschig? – genug im Vergleich zu seinen Florida-Palazzo Mar-a-Lago. Der spröde Charme von Camp David – das den US-Präsidenten seit 1943 als Refugium dient – erschöpfe sich nach einem Tag, soll Trump gelästert haben.

Landsitz-Gipfel: Anwar Sadat, Jimmy Carter und Menachem Begin 1978 in Camp David
Foto: Anonymous / APBiden ist anders gestrickt. Das Feiertagswochenende (am Montag war hier Presidents' Day) verbrachte er mit seiner Familie in Camp David – und genoss es. Enkelin Naomi forderte ihn sogar zum Arcade-Videospiel Mario Kart heraus, das dort aufgebaut war. Eigentlich dürfen sich US-Präsidenten nicht selbst ans Steuer setzen, doch der Secret Service habe »eine Ausnahme gemacht«, schrieb sie in einer Instagram-Story. Sie postete Fotos von Biden und seiner Mütze mit der Aufschrift: »Präsidentenrefugium Camp David.«
Storys der Woche
Diese Geschichten unseres USA-Teams möchte ich Ihnen ans Herz legen:
Impeachment-Freispruch I: Triumph des Wahnsinns
Impeachment-Freispruch II: Die Macht des Mobs
QAnon-Anhängerin: Wer wählt eine Frau, die QAnon glaubt?
QAnon-Aussteigerin: »Ich habe Donald Trump größer werden lassen als Gott«
Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche!
Herzlich,
Ihr Marc Pitzke