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Island: Komiker im Rathaus von Reykjavík

Foto: Claudia Höhne

Bürgermeister von Reykjavík Ansichten eines Clowns

Er ist Anarchist, Komiker und bald nicht mehr Bürgermeister von Reykjavík: Jón Gnarr hat Island aufgewirbelt. Über politische Visionen zwischen Punk und Blumenkind schreibt er in seinem Buch - es ist sein Plädoyer für etwas mehr Chaos in der Politik.

Hamburg - Wenn er lacht, lachen alle. Auch Hunderte politisch interessierter Deutscher im Hamburger Körber-Forum. Es ist ein tiefes, kehliges Lachen, das ansteckt. Menschen unterhalten, das kann Jón Gnarr. Bevor er sich aus einer Laune heraus zum Bürgermeister von Reykjavík wählen ließ, war er Islands beliebtester Comedy-Star. Nun ist der 47-Jährige auch Autor des Buches "Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!! Wie ich einmal Bürgermeister wurde und die Welt veränderte".

Bei der Diskussionsrunde mit Piratin Marina Weisband und Philosoph Richard David Precht sagt Gnarr Dinge wie: "Wenn ein Mann für vier Jahre ins Gefängnis geht und dort sexuelle Kontakte mit Männern hat, ist er dann homosexuell?" Und lacht. Es ist sein Bild dafür, dass er vier Jahre als Politiker arbeiten konnte, ohne wirklich zu einem zu werden. Was vorne herum wie ein Scherz daherkommt, macht vieles über Jón Gnarr deutlich: Der Isländer liebt die Provokation, liebt es zu lachen, fordert jedoch im gleichen Satz Gleichberechtigung für Homosexuelle, eine seiner klaren politischen Botschaften.

In der Hamburger Runde trägt Jón Gnarr ein schlichtes Sakko, Wanderschuhe und einen Schal statt Krawatte. Im Rathaus von Reykjavík erschien er schon mal mit rotem Nagellack und Lippenstift . Das kam nicht immer gut an. Doch er will überraschen, aufrütteln, motivieren und vor allem: zeigen, dass es auch anders geht.

"Ich war schon als Kind ein Virus"

Seine "Besti flokkurinn", die "Beste Partei", schreibt: "Familien sind unser höchstes Gut" oder "Wir versprechen absolute Gleichstellung", direkt gefolgt von "Wir sind immer frisch gewaschen und korrekt gekleidet". Über diese Mischung aus politischen Forderungen und Klamauk kann man sich ärgern. Man kann jedoch auch sehen, dass sogar über Politik gelacht werden darf.

"Ich war schon als Kind ein Virus, und ich bin ein Virus in der Politik. Ich bin ein Troll unter Menschen. Ich bin Anarchist", schreibt Gnarr in seinem Buch, das auch eine Autobiografie ist. Als erfolgloser Schüler mit Immer-dagegen-Attitüde und Mitglied einer Punkband schaffte er den Weg vom Taxifahrer zum Komödianten. 2009 steckte Island tief in der größten Finanzkrise seiner Geschichte, Kredite wuchsen ins Unermessliche, die Wut der Bürger entlud sich in der Kochtopfrevolution, die vor den Regierungsgebäuden lärmte. "Was fehlte, war etwas wirklich Neues", schreibt Gnarr.

Also erdachte er zunächst für eine Sketchshow einen einfältigen Kommunalpolitiker, selbstherrlich und mit absurden Wahlversprechen. Diese Rolle sollte einer spontanen Eingebung folgend zu seiner eigenen werden. "Je platter und dämlicher, desto besser", nennt er heute seine Wahlkampf-Slogans, die er zunächst nur aus Protest in Einkaufscentern oder auf YouTube, Twitter  und Facebook  zum Besten gab. Er versprach einen Eisbären für den Zoo oder kostenlose Handtücher für alle. Ehe er sich versah, war seine "Beste Partei" im Sommer 2010 mit 34,7 Prozent ins Stadtparlament gewählt und Gnarr: Bürgermeister.

Plädoyer für Engagement im Kleinen

Vier Jahre, einige realpolitische Entscheidungen (Rettung des örtlichen Stromversorgers durch massive Kündigungen, Zusammenlegung von Schulen) und diverse Sinnkrisen später will Gnarr, der in Reykjavík "Clown im Rathaus" genannt wird, zwar nicht mehr kandidieren, obwohl die Umfragen derzeit für ihn sprechen. Jedoch will er mehr als eine neu sortierte Stadt hinterlassen.

Bleiben noch seine demokratischen Visionen, bei denen der Komiker ernst bleibt. "Fang bei dir zu Hause an, für Frieden zu sorgen, bevor du in die Welt hinausziehst", schreibt Gnarr. Das klingt nach Blumenkind. Doch mit seiner Wahl zum Bürgermeister hat Gnarr gezeigt, was möglich ist. Sein Plädoyer für Bürgerpolitik und Engagement im Kleinen mündet in der Werbung für die Online-Demokratie-Plattform Betri Reykjavík . Dort sammelt er Ideen für seine Stadt und lässt Bürger über Projekte diskutieren und abstimmen. "Die Zukunft der Politik ist die Lokalpolitik", schreibt Gnarr.

Sein direktes politisches Engagement soll in der Schwesterpartei "Strahlende Zukunft" im isländischen Parlament fortleben. Sein Vorhaben, vor Ablauf der vierjährigen Amtszeit Reykjavík zu einer 100 Prozent militärfreien Zone zu deklarieren, wird wohl ein Traum bleiben. Ob er mit seiner "Besten Partei" dauerhaft etwas ändern konnte, will Gnarr abwarten: "Zumindest haben wir viel Spaß, und ich finde, das haben wir auch verdient."

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