Verfahren gegen WikiLeaks-Gründer "Das ist ein Krieg gegen den Journalismus"

Proteste für Assange in Melbourne: Staatsfeind der USA
Foto: WILLIAM WEST/ AFPDer Whistleblower Edward Snowden warnt davor, Wikileaks-Gründer Julian Assange an die USA auszuliefern. Er bezweifle, dass Assange in den USA einen fairen Prozess erwarten könne, sagte Snowden dem SPIEGEL - es sei jetzt bereits klar, dass er schuldig gesprochen würde, "egal, mit welchen Anklagen sie ihn konfrontieren werden". "Jedes vernünftige Land", so Snowden, würde daher von einer Auslieferung absehen. Der Prozess, in dem über das weitere Schicksal Assanges befunden wird, beginnt am Montag in London.
Es sei kein Zufall, dass über die Anklage des Wikileaks-Gründers, sollte er ausgeliefert werden, eine sogenannte Grand Jury in Virginia entscheiden werde, sagte Snowden, der selbst seit mehr als sechs Jahren im Moskauer Exil lebt. Im Bundesstaat Virginia wohnten weit überdurchschnittlich viele Angehörige der US-Regierung und ihrer Geheimdienste. "Praktisch jeder 'Staatsfeind' der USA wird dort angeklagt", sagt Snowden. Und es sei offensichtlich, dass jetzt schon "aktiv daran gearbeitet" werde, einen Schuldspruch gegen Assange zu erzielen.
"Julian ist ein politischer Gefangener"
Es sei zwar nicht an ihm, über den Wikileaks-Gründer zu urteilen, so Snowden. "Aber wenn Sie mich fragen, ob er für die Welt mehr Gutes oder Schlechtes geleistet hat, dann scheint mir klar, dass er mehr Gutes getan hat, um die Öffentlichkeit zu informieren – selbst in den Fällen, für die er stark kritisiert worden ist."
Assange sitzt zur Zeit im Londoner Belmarsh-Gefängnis, einer Haftanstalt für Terroristen und Schwerverbrecher. Die Justiz der Vereinigten Staaten führt 18 Anklagepunkte gegen den 48-jährigen Australier an. Nach jetzigem Stand drohen ihm 175 Jahre Gefängnis, und es gibt Indizien dafür, dass Assange mit weiteren, noch geheim gehaltenen Anklagepunkten konfrontiert werden könnte.
Außerdem müssen wohl etliche seiner Mitstreiter und Unterstützer mit Strafverfolung in den USA rechnen. Im Fall Assange wird auch über die grundlegende Frage verhandelt, ob es ein Verbrechen ist, staatliche Missstände und kriminelles Fehlverhalten von Regierungen durch Veröffentlichung geheimer Unterlagen aufzudecken.
Während Assanges Inhaftierung ist Kristinn Hrafnsson der Chef von WikiLeaks, ein isländischer Journalist. Das Büro der Organisation befindet sich in der Landeshauptstadt Reykjavík. Einem SPIEGEL-Redakteur öffnete Hrafnsson dort jüngst die Tür mit den Worten: "Dieser Ort existiert nicht." An der Wand hängt eine Weltkarte, gegenüber steht ein kühlschrankgroßer Safe, auf dem Tisch dazwischen ein Warnschild: "Dieser Raum wird überwacht, keine heiklen Gespräche, benutzt Stifte."

Wikileaks-Gründer Assange: 18 Anklagepunkte
Foto: Lennart Preiss/AP/ dapdDer 57-jährige Hrafnsson sagte: "Julian ist ein politischer Gefangener, jeder kann das sehen." Es sei klar, wer der nächste wäre, sollte er an die USA ausgeliefert werden: "Ich."
Der Isländer berichtete von merkwürdigen Vorgängen. Mehrere WikilLeaks-Mitstreiter, selbst solche mit nachrangigen Rollen in der Organisation, hätten zuletzt Besuch von Ermittlern bekommen. Ihnen sei Immunität angeboten worden, sollten sie im Prozess gegen Assange aussagen.
"Man hat ihnen quasi die Pistole an die Schläfe gesetzt, damit sie sich an einer Menschenjagd beteiligen", sagte Hrafnsson. "Ich nenne das ein Angebot wie aus dem Film ,Der Pate’. Man kann es nicht ablehnen." Hartnäckig recherchierende Journalisten könnten bald überall Gefahr laufen, "als Extremist oder Spion behandelt zu werden", so Hrafnsson. "Das ist ein Krieg gegen den Journalismus."
Tatsächlich ist auffällig, wie massiv vor allem die USA derzeit gegen Investigativ-Journalisten und Whistleblower vorgehen. Bereits seit März 2019 sitzt die einst von US-Präsident Barack Obama begnadigte Chelsea (ehemals Bradley) Manning, die Quelle des von WikiLeaks 2010 veröffentlichten "Collateral Murder"-Videos, in Beugehaft. Sie weigert sich, gegen Assange auszusagen. Ähnlich geht es dem Hacker Jeremy Hammond und weiteren WikilLeaks-Quellen.
Vor massiven Eingriffen in die Presse- und Meinungsfreiheit warnt der Uno-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer. Im Fall Assange gehe es "nicht einfach um ein Einzelschicksal, sondern um die Zukunft unserer Demokratie und Rechsstaatlichkeit", sagte Melzer vor Kurzem in einem SPIEGEL-Interview.
"Es ist grauenhaft, immer wieder beschuldigt zu werden"
Nach einem Gefängnisbesuch, bei dem zwei Ärzte den WikiLeaks-Gründer untersuchten, kam Melzer zu dem Ergebnis, dass Assange "Opfer psychologischer Folter" sei. Den an seiner Verfolgung beteiligten Staaten wirft er vor, Assange "ganz gezielt gedemütigt, verteufelt und entmenschlicht" zu haben.
Scharfe Kritik äußerte Melzer auch an den Ermittlungen gegen Assange in Schweden, die 2010 in Stockholm anfingen: "Dort wurde die öffentliche Meinung ganz gezielt gegen ihn gewendet und seine politische Verfolgung und systematische Misshandlung überhaupt erst ermöglicht."
Die Ermittlungen hatten begonnen, als zwei Frauen zur Polizei gingen, nachdem sie unabhängig voneinander Sex mit Assange hatten. Ihr Vorwurf: Er habe sie zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr gedrängt und in einem Fall während des Akts heimlich ein Kondom zerrissen. Ein jahrelang anhängiges Verfahren wegen des Verdachts auf Vergewaltigung wurde im vergangenen November eingestellt.
Anna A., eine der beiden Frauen, äußerte sich jetzt in einer Mail an den SPIEGEL zur Frage, wie sie den Fall nach den Vorwürfen Melzers beurteilt: "Ich verstehe wirklich nicht, warum die Ereignisse des Jahres 2010 für das Auslieferungsverfahren von Bedeutung sein sollen. Und es ist grauenhaft, immer wieder beschuldigt zu werden, an 'Folter' beteiligt gewesen zu sein, bloß weil mein Belästiger sich weigerte, vor ein schwedisches Gericht zu treten, um zu einer persönlichen Sache angehört zu werden, die mit WikiLeaks nicht das Geringste zu tun hat."