Justizskandal in Israel Staatsgeheimnis um den Gefangenen X

Ajalon-Gefängnis in Ramla (Archivfoto aus dem Jahr 2005): Wer sitzt in der Abteilung 15?
Foto: CorbisDer israelische Zensor hatte übersehen, welche Brisanz in der Frage steckte: "Mister X, wer sind Sie?", lautete eine Schlagzeile der israelischen Nachrichten-Website Ynet. Vielleicht dachte man in der Behörde eher an den Titel eines Spionageromans als an ein Staatsgeheimnis, das auf gar keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen durfte.
So ging vergangene Woche eine unglaubliche Geschichte online: Im Ajalon-Gefängnis im israelischen Ramla sitzt offenbar ein Häftling ein, dessen Namen nicht einmal seine Wärter kennen - das hatte ein Anonymus im Justizvollzugswesen dem Journalisten Raanan Ben-Tzur gesteckt. Was der in Isolationshaft gehaltene Mann verbrochen habe, wie lange er schon, wie lange er noch vor der Welt versteckt gefangenen gehalten werden würde, all das sei streng geheim.
Nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung, raunen Journalisten in Israel, hätten Agenten des Inlandsgeheimdienstes Schabak der Redaktion einen Besuch abgestattet. Und dann war die Geschichte des anonymen Häftlings auch schon von der Website verschwunden.
Aber damit war sie natürlich nicht aus der Welt.
In israelischen Blogs und Foren wie www.rotter.net kursierten prompt Verschwörungstheorien wie diese: Mister X sei ein Mossad-Agent, der Landesverrat begangen habe und nun aufs Härteste bestraft werde. Insider aus dem israelischen Justizmilieu munkeln derweil, Mister X sitze schon seit Jahren hinter Gittern.
Doch die Justizbehörde verweigert standhaft jede Auskunft, ob es einen Mister X überhaupt gibt.
"Er ist ein Mann ohne Namen"
Der Justizbeamte, der Reporter Ben-Tzur auf die Fährte von Mister X setzte, scheint aus moralischer Überzeugung gehandelt zu haben: "Es ist beängstigend, dass im Jahr 2010 jemand in im Gefängnis sitzen kann, ohne dass wir wissen, wer er ist", zitierte Ynet die anonyme Quelle. Die Wärter dürften nicht zu Mister X sprechen, er bekäme keinen Besuch, keiner seiner Mitgefangenen hätte ihn je zu Gesicht bekommen. Niemand scheine zu wissen, dass er eingesperrt sei. "Er ist ein Mann ohne Namen, der absolut isoliert von der Außenwelt ist", so der Beamte.
Dass Mister X ein Häftling von Rang ist, darauf lassen seine Haftbedingungen schließen: Der Isolationstrakt des israelischen Ajalon-Gefängnisses, in dem X einsitzen soll, wurde ursprünglich eigens für Jigal Amir gebaut, den rechtsextremen Mörder des israelischen Ministerpräsidenten Jizchak Rabin. Ein langer Korridor führt in die einzige, videoüberwachte Zelle der Abteilung 15. Amir, der Rabin 1995 erschossen hatte, wurde 2006 in eine andere Anstalt verlegt - ob seine Zelle seitdem von Mister X belegt wird, steht zu beweisen.
Der Fall hat Menschenrechtsgruppen in Israel auf den Plan gerufen. Der Verband für Bürgerrechte hat Antrag an die Jerusalemer Staatsanwaltschaft gestellt, Auskunft über Mister X erhalten zu wollen. "Es ist unerträglich, dass die Behörden in einem demokratischen Land Menschen unter völliger Geheimhaltung verhaften und verschwinden lassen können, ohne dass die Öffentlichkeit überhaupt davon erfährt", so der Text der Eingabe. Eine Antwort auf die Anfrage seitens der Staatsanwaltschaft steht aus.
Spurlos verschwunden
"Der Fall ist surreal", so Dan Yakir, Anwalt der Bürgerrechtsorganisation gegenüber SPIEGEL ONLINE. "Aber aus Erfahrung wissen wir, dass es durchaus möglich ist, dass jemand scheinbar spurlos in einem israelischen Gefängnis verschwindet."
Yakir spielt auf den Fall Marcus Klingberg an. Der israelische Biologe hatte seit den fünfziger Jahren für die Russen spioniert und Details über Israels biologische Waffen an Moskau verraten. Doch der Geheimdienst kam ihm auf die Schliche. 1983 baten ihn Deckmänner des Schabak, dienstlich nach Singapur zu fliegen. Anstatt nach Asien führte Klingbergs Reise jedoch ins Gefängnis, wo er insgesamt 16 Jahre absaß. Das gesamte erste Jahrzehnt seiner Haft wusste die Öffentlichkeit nicht um seine Verhaftung, sein Verbrechen, seine Strafe: Um Hafterleichterung zu erhalten, hatte sich Klingberg auf einen Handel mit den Behörden eingelassen und wurde im Gefängnis unter falschem Namen geführt. Nur seine Frau und seine Tochter kannten die Wahrheit, für alle anderen war Klingberg "beruflich im Ausland".
In einem anderen Fall geheim gehaltener Bestrafung stand die israelische Journalistin Anat Kam im vergangenen Winter monatelang unter Hausarrest, bevor die Öffentlichkeit davon erfuhr. Auch in ihrem Fall verhinderte eine Nachrichtensperre, dass die Medien über ihren Arrest berichteten. Erst nachdem internationale Journalisten ihre Geschichte unter Umgehung der israelischen Zensur veröffentlichten, gelangte sie auch an das israelische Publikum. Kam wurde vorgeworfen, Geheimdokumente des Militärs an Journalisten weitergegeben zu haben. Die Nachrichtensperre wurde daraufhin aufgehoben. Kam wird derzeit der Prozess gemacht.
Ob der Gefangene X damit rechnen kann? "Wir werden uns jedenfalls dafür einsetzten, dass er einen fairen Prozess bekommt", sagt Dan Yakir vom Verband für Bürgerrechte in Israel und fügt noch hinzu: Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu wissen, ob es Mister X gibt. Genauso, wie er das Recht hat, Besuch zu empfangen."
Nur: Offiziell existiert er ja noch nicht einmal.