Harter Alltag in Kakuma Vom Leben und Arbeiten in einem der größten Flüchtlingslager der Welt
Im Norden Kenias, inmitten des dürren Landstrichs nahe der Grenze zum Südsudan und zu Uganda, liegt eines der größten Flüchtlingslager der Welt. Längst hat das Camp die namensgebende Provinzhauptstadt Kakuma, an deren Rändern die ersten Geflüchteten einst Zuflucht in Zelten fanden, überragt: Kakuma 1 bis 4, wie die Siedlungen offiziell heißen, sind zu einer Stadt neben der Stadt herangewachsen. Seit Kakuma 1992 seine Tore für Flüchtlinge des sudanesischen Bürgerkriegs öffnete, trieben die Konflikte in Ostafrika neue Menschen in das Camp.
Heute leben in dem Lager, das ursprünglich als Zufluchtsstätte für 23000 Menschen konzipiert wurde, mehr als 150000 Geflüchtete - abgeschieden in der trockenen Einöde. Das Camp ist zu einer dauerhaften Stadt angewachsen, allerdings ohne Stromanschluss, ohne fließend Wasser, ohne eine einzige befestigte Straße.

Flüchtlingslager Kakuma
Foto:Christian Werner
Trotz aller Widrigkeiten haben die Menschen in Kakuma ihre eigene Infrastruktur geschaffen. Denn auch in der Not macht der Mensch das, was er seit jeher macht: Er wirtschaftet. So entstand in Kakuma ein innovativer Markt mit teils kreativen Geschäftsmodellen.
Fredy Nduinimana, 35 Jahre alt, schiebt sein Fahrrad durch staubige Straßen, die an den tausendfachen Traum von einem besseren Leben an fernen, für die meisten hier unerreichbaren Orten erinnern: New York Street, Dubai Street, Khalifonia Street - Namen von Sehnsuchtsorten, gepinselt auf Zäune aus Wellblech. Er transportiert das, worauf jeder hier im Camp angewiesen ist:
Viele Geflüchtete leben schon in zweiter Generation in Kakuma, finden Arbeit, eröffnen Geschäfte und betreiben Handel. Idephons Wilondja aus der Demokratischen Republik Kongo verkauft Handy-Guthaben. Bis zu zwölf Stunden verbringt er in seinem Laden, der kleiner ist als eine Telefonzelle. Dafür bekommt er umgerechnet sieben Euro.

Idephons Wilondja
Foto:Christian Werner
Rajabu Mawazo, die 2010 aus der Demokratischen Republik Kongo floh, verkauft in Kakuma Gemüse und getrockneten Fisch aus dem hundert Kilometer entfernten Turkana-See, dem größten Wüstensee der Welt und eine der wichtigsten Proteinquellen im Norden Kenias. An guten Tagen verdient Mawazo knapp zehn Euro, mit denen sie sich und ihre fünf Familienmitglieder ernährt.

Rajabu Mawazo
Foto:Christian Werner
Der 28-jährige Israel Ras floh mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern im Jahr 2000 aus dem Sudan nach Kakuma. Vor zwei Jahren eröffnete die Familie einen Laden, in dem sie Kunsthaar, Gummischlappen, Gürtel und anderen Haushaltsbedarf verkauft.

Israel Ras
Foto:Christian Werner
Christophe Bigirimana aus Burundi züchtet in einem Wellblechverschlag und in einem Stall aus Lehm Hühner, die er auf den Märkten im Camp und an die etlichen Hilfsorganisationen verkauft: "Von den NGOs kann ich etwas mehr Geld verlangen. Dafür sind die Preise für die Geflüchteten auf dem Markt günstiger."

Christophe Bigirimana
Foto:Christian Werner
Yasin Milinga, 24, verlor seine gesamte Familie in der vom Krieg zerrütteten Provinz Süd-Kivu im Kongo. Als Motorradtaxifahrer sparte er Geld, mit dem er seinen eigenen Laden für Bauholz eröffnete - ein einträgliches Geschäft, versichert er: "Es kommen ständig neue Leute nach Kakuma, die müssen alle neue Häuser bauen."

Yasin Milinga
Foto:Christian Werner
Die Schwestern Abuk Pajok, 26, und Akech Mabior, 27, die vor zwanzig Jahren aus dem Südsudan flohen, betreiben einen Friseursalon, in dem sie umgerechnet bis zu 17 Euro am Tag verdienen.

Abuk Pajok und Akech Mabior
Foto:Christian Werner
Die Entwicklungsbank "International Finance Corporation", Teil der Weltbankgruppe, veröffentlichte 2018 eine Studie, die das Geschäftspotenzial im Lager ergründete. Die Forscher zählten rund 2100 "Geschäfte", von denen aber nur etwas mehr als ein Drittel offiziell bei den kenianischen Behörden registriert waren. Fast ein Viertel aller befragten Männer bezeichneten sich als Geschäftsmann oder selbstständig, wohingegen nur sieben Prozent der befragten Frauen angaben, einer selbstständigen Arbeit nachzugehen.
Seit Veröffentlichung der Studie ist das Camp weitergewachsen - und mit ihm die Zahl der Geschäfte. Vom Geflüchteten zum Geschäftsmann? Oft ist die Wirklichkeit trüber: Falls es in dem Camp mit Hunderttausenden Gestrandeten tatsächlich Gewinner gibt, so sind das die Wenigsten.

Lebensmittelausgabe im Camp
Foto:Christian Werner
Die Mehrheit bleibt abhängig von Lebensmittelspenden. Die Bedürftigen können ihre Notrationen alle zwei Wochen an einer der zentralen Ausgabestellen abholen - oder sie erhalten eine Gutschrift auf ihr Handy. Diese können sie in ausgewählten Läden gegen Waren eintauschen. Doch mangels internationaler Geldgeber musste das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen diese Notrationen in den vergangenen Jahren immer wieder reduzieren.
Trotz der Not zählt neben Mehl, Öl und Erbsen auch würdevolle Kleidung zu den Grundbedürfnissen der Menschen in Kakuma. Davon jedenfalls ist Samir Maombi, 23 Jahre alt, überzeugt:
Der Geschäftssinn wird in Kakuma von strengen Auflagen gebremst: Ohne Aufenthaltsstatus dürfen die Geflüchteten offiziell keine Arbeit annehmen, das Camp nicht ohne Erlaubnis verlassen und kein Land erwerben. Jeden Abend um 18 Uhr, wenn hier, in Äquatornähe, die sengende Sonne untergeht, werden die Tore des Lagers geschlossen.
Außerdem mangelt es an Elektrizität. Nur fünf Prozent der Haushalte haben Zugang zu Strom. Trotz vereinzelter Initiativen, das Camp mit Solarzellen auszustatten, versinkt Kakuma nach Sonnenuntergang im Dunkeln. Dann kommt auch die Arbeit in weiten Teilen des Lagers zum Erliegen. Denn ohne Licht können viele Geschäfte nicht betrieben werden. Doch Abdi Safa Omar, 35 Jahre alt, bringt mit seinem eigenen Kraftwerk Licht ins Dunkel:
Trotz der vielen Geschichten, die von Aufstieg und erfolgreichen Geschäften erzählen, ist der Alltag im Camp rau. Vor allem nachts gibt es immer wieder bewaffnete Raubüberfälle. Und die Situation verschärft sich weiter, da nach wie vor viele Geflüchtete das Lager erreichen. Es kommt zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung in Kakuma-Stadt, deren Einwohner bisher gute Geschäfte mit den Campbewohnern machten. Vor allem aufgrund der anhaltenden Gewalt im Südsudan fliehen jeden Monat Hunderte weitere Menschen nach Kenia.
Viele dieser Neuankömmlinge werden seit 2015 in Kalobeyei, dreißig Kilometer außerhalb von Kakuma, untergebracht. Nach oft tagelangen Fußmärschen kommen die Menschen meist mit nichts außer ihrem nackten Leben im Lager an. In Kalobeyei beginnen sie bei null: in Zelten oder einfachen Unterständen, ohne jede Infrastruktur, abhängig von den Gaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen.
So wie einst die Menschen in Kakuma, die aus einem Camp eine Stadt gemacht haben.
Autor Marius Münstermann
Fotos und Videos Christian Werner
Grafik Lorenz Kiefer, Cornelia Pfauter
Programmierung Chris Kurt, Dawood Ohdah
Schlussredaktion Katrin Zabel
Dokumentation Stephanie Hoffmann
Redaktion Alexander Epp, Jens Radü
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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