Taktik der italienischen Regierung 629 Geiseln gegen Europa

Italiens Blockade gegen das Flüchtlingsschiff "Aquarius" war kühl kalkuliert: Der rechte Lega-Chef Salvini will seinen Landsleuten und Europa demonstrieren, dass er seine Drohungen ernst meint.
Flüchtlinge vor der Rettung durch die "Aquarius"

Flüchtlinge vor der Rettung durch die "Aquarius"

Foto: CHRISTOPHE PETIT TESSON/ EPA-EFE/ REX/ Shutterstock

Es war ein Wahlsonntag in Italien. Zwar nur Kommunalwahlen in 761 kleineren oder mittelgroßen Gemeinden. Aber für die neuen Regenten in Italien war es ein wichtiger Test zur Stimmungslage ihrer Wähler. Matteo Salvini, Anführer der stramm rechten Lega und nun Innenminister in Rom, hatte die Italiener via Internet noch einmal ausdrücklich aufgefordert, für seine Partei zu votieren. Obwohl man das am Wahltag eigentlich nicht darf - schon gar nicht als Innenminister.

Zusätzlich hatte er sich eine Aktion vorgenommen, die in ganz Europa bis zum 28. Juni nachklingen sollte. Dann beginnt ein zweitägiges Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs. Thema: Die Revision der sogenannten Dublin-Verträge. Diese regeln, wie Flüchtlinge, die nach Europa kommen, dort verteilt werden. Und eben diese Verteilung findet Italien seit Langem ungerecht, die neue Regierung will sich fortan nicht mehr daran halten. Das wollte Salvini mit seinem "WirschließendieHäfen"- Hashtag, der die Aktion einleitete, allen klarmachen. Denen in Brüssel, in Berlin und in Paris - und ganz nebenbei auch dem kleinen Inselstaat Malta.

Die Experten seines Innenministeriums mahnten schon seit Tagen, dass mit einem neuen Schub von Migranten aus Libyen zu rechnen sei: Das Wetter ist heiter, das Meer ruhig, das Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan nahe.

Im Video: Geiseln auf hoher See

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400 Flüchtlinge waren am Sonntag schon angelandet, dann wurden weitere 600 angekündigt, auf der "Aquarius", dem Schiff der Hilfsorganisationen SOS-Mediterranée und Ärzte ohne Grenzen. Das wären 1000 Flüchtlinge an einem Tag - und Innenminister Matteo Salvini sieht hilflos zu? Er hätte sein Gesicht verloren, so seine große Sorge. All die harten Wahlkampfansagen, laut denen er Italien vor der "Migrantenflut" bewahren werde, wären widerlegt.

Da gab Salvini Order, Italiens Häfen für die "Aquarius" zu schließen. Der nächstgelegene sichere Hafen läge in Malta, dorthin mögen die Helfer die Migranten bringen. Erwartungsgemäß erklärte die Malta-Regierung sich überfordert und lehnte die Aufnahme der 629 Personen - darunter Kinder, schwangere Frauen, in den libyschen Lagern traumatisierte Menschen - rundweg ab. Und Salvini hatte seinen Präzedenzfall, um die "Flüchtlingskrise" zu europäisieren.

Einen ersten Erfolg kann er wohl auch schon verbuchen: Spaniens neuer, sozialistischer Regierungschef Pedro Sánchez bot an, die Flüchtlinge im Hafen von Valencia aufzunehmen, "um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern".

"Geht doch", kann Salvini nun sagen und sich von seiner Klientel dafür feiern lassen. Er hat geschafft, was seine Vorgänger vergebens forderten.

Merkel: Italien wird ungerecht behandelt

Seit Langem klagt die Regierung in Rom, man werde mit dem "Migrantenproblem allein gelassen". Nach den Dublin-Regeln ist das Land, in dem ein Flüchtling oder ein Zuwanderer europäischen Boden erreicht, für diesen zuständig. Es muss ihm Schutz und Hilfe gewähren, wenn der ein Asyl- oder ein Bleiberecht hat - oder ihn zurückschicken. Was bekanntlich schwierig ist. Italien mit seiner langen Mittelmeergrenze, an der in den vergangenen fünf Jahren rund 600.000 Flüchtlinge, die meisten aus Afrika, angekommen sind, muss damit große Lasten tragen.

Andere Länder, etwa die ohne Außengrenzen, haben damit weniger oder gar keine Probleme. Das sei ungerecht, sagt auch Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel. Aber bislang gab es keinerlei Bereitschaft der EU-Mehrheit, den Italienern - wie auch den Griechen - einen Teil der Last abzunehmen.

Ab jetzt werde man nicht mehr klagen, sondern handeln, ließ Salvini nun alle wissen. "Ab heute sagt Italien 'nein' zum Menschen-Transportgeschäft und 'nein' zur illegalen Einreise". 629 Geiseln verliehen seinen Worten Nachdruck.

Den Ministerpräsidenten "informiert"

Soweit die Außenwirkung, intern ging es chaotisch zu in Rom. Denn Innenminister Salvini ist zur Schließung der Häfen gar nicht befugt. Der zuständige Kollege, Transportminister Danino Tonilelli, ist freilich kein Lega-Mann sondern einer aus der 5-Sterne-Bewegung und eigentlich auch nicht Salvinis Meinung. Aber weil er die unter größten Schwierigkeiten gerade erst gebildete Regierungskoalition nicht gefährden wollte, gab er sein Okay.

Auch 5-Sterne-Chef Luigi Di Maio - im Kabinett für die wirtschaftliche Entwicklung, für Arbeit und Sozialpolitik zuständig und wie sein Kollege Salvini stellvertretender Ministerpräsident - nickte den Lega-Coup mit Bedenken ab. Der formell in Rom regierende Ministerpräsident Giuseppe Conte wurde - auf dem Rückflug vom G7-Gipfel in Kanada - immerhin informiert über das, was seine Regierung gerade angerichtet hatte.

Widerstand aus den Sterne-Lager - aber dann doch wieder nicht

Immerhin meldete sich der eine oder andere aus dem 5-Sterne-Lager mit einer ganz anderen Position. So kündigte etwa der Bürgermeister von Livorno, Filippo Nogarin, via Facebook an, der Hafen seiner Stadt stehe der "Aquarius" und den Menschen an Bord offen - zog aber das Angebot wenig später wieder zurück, weil er "der Regierung keine Probleme bereiten" wolle.

"Basta", heißt jetzt die neue italienische Linie in der Flüchtlingspolitik, formuliert von Innenminister Salvini auf Facebook, "Leben zu retten ist eine Pflicht, Italien in ein riesiges Flüchtlingslager zu verwandeln nicht". Italien werde ab sofort "nicht mehr den Kopf senken und gehorchen".

Für Montagabend oder Dienstagfrüh ist ein weiteres Schiff angekündigt, mit Migranten, die vor der Küste Libyens gerettet wurden. Aber nicht von ehrenamtlichen Helfern sondern von der italienischen Marine. Ob die an Land dürfen?

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