Kambodscha Wie angebliche Waisenhäuser Kinder und Touristen ausbeuten

Chinesische Touristin in einem Waisenhaus in Siem Reap, Kambodscha
Foto: Maria FeckJeden Morgen um halb sieben beginnen die Kinder im Waisenhaus Little Angels in Kambodscha mit ihrer Arbeit. Die Jungen und Mädchen setzen sich an Holztische, die vor dem Eingang aufgestellt sind, so, dass die vorbeifahrenden Touristen sie sofort sehen können.
Stundenlang stanzen sie dann mit Hammer und einem kleinen Meißel Löcher in Lederstücke, auf denen filigrane Muster vorgezeichnet sind. Sie sind still, während sie klopfen, einer der Jungen hat sich Kopfhörer in die Ohren gesteckt. Die Lederkunstwerke werden in Kambodscha traditionell für das Schattenpuppenspiel benutzt, hier dienen sie als Souvenir für Touristen. Ein großes Bild kostet 700 Dollar.

Kinder im Waisenhaus Little Angels: Lederkunstwerke für die Touristen
Foto: Maria FeckGegen 11 Uhr hält ein kleiner Reisebus auf der staubigen Straße vor dem Waisenhaus. Little Angels liegt nicht weit von Angkor Wat entfernt, dem Weltkulturerbe in der Provinz Siem Reap, das im vergangenen Jahr mehr als 2,5 Millionen Besucher verzeichnete.
Bunt gekleidete Chinesen steigen aus dem Bus, werfen Geld in eine durchsichtige Spendenbox, kaufen kleine Lederanhänger in Herzform und verteilen Tüten voller Süßigkeiten an die Kinder. Die stellen sich zum Dank dafür nebeneinander auf und beginnen Lieder zu singen, das Finale ist ein englischer Klassiker: "You Raise Me Up". Die Touristen machen Fotos mit ihren Handys.

Kambodschanisches Waisenheim: Schuften für die Touristen
Das Schauspiel führen die Kinder jedes Mal auf, wenn Besuchergruppen kommen. Außer den anrührenden Textzeilen sprechen die 80 Heimkinder allerdings kaum Englisch. Morgens müssen sie arbeiten, nachmittags haben sie fünf Stunden lang Unterricht an einer staatlichen Schule.
Einer der Jungen, die Muster in die Kuhhäute schlagen, ist Dorm Sophea. Der schmächtige Körperbau des 15-Jährigen gleicht dem eines Grundschülers, aber er spricht abgeklärt wie ein Erwachsener. "Mir gefällt es hier, weil ich Geld verdienen kann", sagt er. Im Monat bekommt er zwischen 10 und 20 Dollar.

Waisenjunge Dorm Sophea: "Mir gefällt es hier, weil ich Geld verdienen kann"
Foto: Maria FeckFast alles davon gibt er an seine Mutter weiter. Denn seine Eltern sind nicht tot, sie leben nicht einmal weit weg. Aber seine Mutter, die vom Vater verlassen wurde, ist auf das monatliche Einkommen des Sohnes angewiesen. Seit zwei Jahren lebt Dorm Sophea deshalb im Waisenhaus.
In den kargen Schlafräumen steht ein Bett neben dem anderen, die Matratzen sind abgewetzt, über manchen hängen bunte Moskitonetze. In den Doppelbetten schlafen drei, manchmal vier Kinder zusammen. Ihre Sachen sind in großen grauen Spinden verstaut.
Tausende Kinder sind in Kambodscha in Waisenhäusern untergebracht, obwohl ein großer Teil der Jungen und Mädchen noch Eltern hat. Das Kinderhilfswerk der Uno, Unicef, spricht deshalb von Kinderheimen. Bei der letzten offiziellen Zählung von 2015 gab es noch 406 solcher Heime im Land, mehr als 16.000 Kinder lebten dort. Laut Unicef ist nur etwa jedes Fünfte wirklich ohne Angehörige.
Die Familien, die ihre Kinder dorthin geben, leben zumeist in großer Armut. Selbst öffentliche Schulen kosten in Kambodscha Geld. Die Heime übernehmen die Kosten dafür, einige bieten noch zusätzlichen Englischunterricht an. Für die Eltern ist das Heim damit eine Art kostenloses Internat, in manchen verdienen die Kinder dazu noch Geld.

Sophea in seinem Bett im Waisenhaus: Eine traumatisierte Generation
Foto: Maria FeckWie sehr die Kinder unter der Trennung von den Eltern und den Bedingungen im Heim leiden, ist in jedem Fall unterschiedlich. Viele hoffen jedenfalls, dass sie damit ihre späteren Chancen auf einen gut bezahlten Job erhöhen. Doch die meisten werden wohl leider enttäuscht werden. Laut Unicef haben die Heimkinder später größere Schwierigkeiten, sich in die Gesellschaft einzufügen, Beziehungen einzugehen und selbst verantwortungsvolle Eltern zu sein - ein geregeltes Familienleben haben sie nicht kennengelernt. So entstehe eine traumatisierte Generation.
Ohne die Touristen würde das System nicht funktionieren
Wie viel von dem Geld der Touristen den Kindern tatsächlich selbst zugutekommt, ist zudem schwer zu sagen. Im Fall der Little Angels gehen laut dem Heimbetreiber offiziell 20 Prozent aus dem Verkauf der Lederkunstwerke direkt an die Kinder, 80 Prozent werden für den Betrieb des Waisenhauses verwendet.
Fest steht: Solche Waisenhäuser können für die Betreiber ein durchaus lukratives Geschäft sein. Und ohne die Touristen würde das System nicht funktionieren. Die Regierung hilft nicht bei der Finanzierung.

Touristin und Kinder im Waisenhaus Little Angels in Siem Reap
Foto: Maria FeckNeben den Souvenirshops und Spenden gibt es für die Ausländer noch einen weiteren Weg, etwas vermeintlich Gutes für die kambodschanischen Kinder zu tun: Sie können in Heimen und Schulen aushelfen, etwa indem sie Englischunterricht geben - und dafür selbst bezahlen. Im Gegenzug bekommen sie das Gefühl, als privilegierte Westler Aufbauhilfe in einem armen Land zu leisten. Für ein solches Engagement im Ausland hat sich der Begriff "Voluntourism" etabliert.
"Lerne Englisch, bekomme einen guten Job"
Wenn man dazu recherchiert, finden sich viele positive Beispiele, in denen streng auf die offiziellen Vorgaben geachtet wird. Einen anderen Einblick bekommt man, wenn man sich in eines der Tuktuks, eine Art motorisierte Rikscha, setzt und sich zu den Heimen fahren lässt, in die auch die anderen Ausländer gebracht werden, die kurz mal helfen wollen.
Dann gelangt man etwa zum Heim Smiling Hearts, in dem an diesem Tag der Englischunterricht für Waisen und benachteiligte Kinder ausschließlich von Ausländern gegeben wird. Die Helfer kommen aus Spanien, Großbritannien und China. In den Klassenräumen stehen so viele Tische nebeneinander, dass sich immer nur ein Kind durch den Gang dazwischen quetschen kann. Auf einer Tafel steht: "Lerne Englisch, bekomme einen guten Job".
In einem weiteren Raum versucht eine junge Frau für Ruhe unter den Kindern zu sorgen. Es ist eine erste Klasse, alle reden wild durcheinander, der Geräuschpegel ist enorm. Als das Ermahnen nicht hilft, greift die Aushilfslehrerin zu ihrem Selfiestick und schlägt damit vor sich auf das Pult, bis es endlich leiser wird.

Kinder in einer Schule in Siem Reap: "Lerne Englisch, bekomme einen guten Job"
Foto: Meta KongEigentlich dürfen Ausländer nicht allein den Unterricht leiten, so lautet eine Vorgabe der Regierung. Belen Liebana, 44, macht es trotzdem. In ihrer Heimat Spanien hatte sie vor ihrer Reise nach Siem Reap ihren Job als Pharmazeutin geschmissen, sie wollte etwas anderes, Sinnvolles mit ihrem Leben anfangen.
Eine Agentur vermittelte sie nach Kambodscha. Wie viel sie dafür bezahlt hat, möchte Liebana nicht sagen. An ihrem letzten Tag schenkt sie Cola an die Kinder aus, die greifen begeistert zu, Liebana lächelt. Zu ihr hat sich die Kritik an den Programmen noch nicht herumgesprochen.
Die australische Regierung stufte das Geschäft mit dem Waisenhaustourismus vor wenigen Monaten sogar als moderne Sklaverei ein. Die australische Senatorin Linda Reynolds nannte die "Voluntourism"-Angebote den "perfekten Betrug des 21. Jahrhunderts", bei dem die Menschen einen "Zuckerschock" davon bekämen, etwas vermeintlich Gutes zu tun und das in den sozialen Netzwerken zu teilen.
Berichte über Touristen, die Heimkinder zu Ausflügen mitnehmen
Organisationen wie ChildSafe Movement versuchen die Touristen mit Plakaten in Restaurants aufzuklären, was sie bei der Freiwilligenarbeit beachten sollten. "Mit Kindern in Einrichtungen wie Waisenhäusern zu arbeiten, ist ein Job für ansässige Experten, nicht für Touristen auf der Durchreise", steht dort.
Kinder verdienten mehr als gute Absichten, bräuchten ausgebildete Lehrer und seien vor allem keine Touristenattraktion. Seriöse Einrichtungen würden gar nicht zulassen, dass Touristen Bilder mit den Kindern machten, sie anfassten oder sogar allein mit ihnen seien. Es gibt dennoch Berichte darüber, dass Besucher Kinder sogar manchmal zu Ausflügen aus den Heimen herausnehmen dürften.

Long Sedtha mit Waisenkindern: "Wir sind eine Familie."
Foto: Maria FeckLong Sedtha arbeitet seit vielen Jahren daran, dass Familien in Siem Reap zusammenbleiben können und die Verzweiflung gar nicht erst zum Wegschicken der Kinder führt. "Es macht mich krank, dass Menschen auch noch Profit aus dem Schicksal der Familien schlagen", sagt er.
Mit seiner Organisation Build Your Future Today Center setzt sich der Kambodschaner für arme Dorfbewohner ein, sammelt Spenden für den Bau von gebührenfreien Schulen oder landwirtschaftliche Projekte. Kinder, die wirklich keine Eltern haben oder deren Angehörige überfordert sind, nimmt er auch in seiner Unterkunft auf, gleichzeitig werden die Eltern betreut.
Kinder sollen zurück zu ihren Eltern gebracht werden
Inzwischen will auch die kambodschanische Regierung die Familien lieber zusammen als getrennt sehen. In Zusammenarbeit mit Unicef hat sie damit begonnen, Einrichtungen zu inspizieren und zu schließen. Allein in Siem Reap mussten nach offiziellen Angaben elf Kinderheime dichtmachen. Gleichzeitig läuft ein Reintegrationsprogramm für die 644 Kinder aus der Provinz Siem Reap, die noch Angehörige oder sogar eine komplette Familie haben.
Eine der ersten in Siem Reap, die wieder zu ihrer Familie zurückgebracht wurde, war To Brosna. Vier Jahre lang war die heute 17-Jährige in einem Waisenheim, das 2018 schließen musste, weil der Betreiber nicht mehr genug Geld zusammenbekam, um für die Kinder zu sorgen. Einmal im Monat kommt nun jemand vom Ministerium für Soziales, um mit der siebenköpfigen Familie von To Brosna zu sprechen, die in einem kleinen Holzhaus lebt, das auf Stelzen steht und aus nur einem einzigen Raum besteht.

Ehemalige Heimbewohnerin To Brosna im Haus ihrer Familie: Die Rückkehr ist schwierig
Foto: Maria FeckDer Schlafbereich der Mädchen ist durch einen grauen, löchrigen Vorhang abgegrenzt, Möbel besitzt die Familie nicht, im Garten gibt es eine Feuerstelle. Die Hocktoilette befindet sich in einem Betonhäuschen einige Meter vom Holzhaus entfernt.
Brosna, die mit dünner Stimme spricht, schläft nur auf einer Strohmatte. Hinter einer Tüte mit Kleidung holt sie das Wertvollste hervor, was sie hat: einen Block, in den sie Ball- und Brautkleider zeichnet. Sie möchte Designerin werden, seitdem sie im Waisenheim eine Fernsehsendung über Modeschöpfer gesehen hat.

Reintegration in die Familie: Schwierige Heimkehr
Chay Vivath, der vom Ministerium zum monatlichen Besuch eingeteilt wurde, ist nicht ganz zufrieden mit der Familie, er schätzt sie "gelb", also mittel, ein. Das heißt zum Beispiel, dass die Familie nicht kooperiert oder das Kind nicht in die Schule geht. In Brosnas Fall hat die Familie nicht genug zu essen, sie ist auf Spenden angewiesen.
Wäre es nach Brosna gegangen, wäre sie gar nicht wieder nach Hause gekommen, sondern im Waisenhaus geblieben. Auch wenn sie dort für die Touristen tanzen musste, die zu Besuch kamen. Dann zogen die Mädchen hellblaue traditionelle Kleider an und wurden geschminkt, Brosna hat noch ein Foto davon.

To Brosna mit einem Foto aus dem ehemaligen Waisenheim: "Alle in den Arm genommen"
Foto: Maria FeckAn eine Westlerin erinnert sie sich besonders, noch Jahre später, obwohl die Italienerin Clementine nur zwei Wochen mit den Kindern verbracht hatte. Sie backte mit ihnen und brachte ihnen Spiele bei, erzählt Brosna. "Sie hat uns alle in den Arm genommen." Über Facebook sind sie noch befreundet, aber in der Holzhütte gibt es kein Internet. Auch der Kontakt zu ihren Freunden aus dem Heim sei abgerissen. Und von ihrer Familie fühlt sie sich ohnehin entfremdet.
Ihre Mutter hatte damals keinen anderen Weg gesehen, als die älteste Tochter wegzugeben. Ihr Mann sei krank geworden, es habe selten genug Essen für alle gegeben. Jetzt leidet die Mutter darunter, dass Brosna nicht mehr zurückwollte. "Als sie zu uns kam, wollte sie gar nichts, sie wollte nicht mal mehr leben", erzählt die Mutter. Langsam werde es besser.
Erinnerungen an gemeinsame Abendessen
Dorm Sophea, der Junge aus dem Waisenheim Little Angels, wird so bald nicht zu seiner Familie zurückkehren können. Seine Mutter Norm Teab wüsste sonst nicht, wie sie die Raten für ihr Geschäft bezahlen sollte. Nur wenige Hundert Meter vom Waisenheim entfernt betreibt sie ihren eigenen kleinen Imbiss, unter freiem Himmel grillt und verkauft sie Hühnerteile und Fische.

Norm Teab, Mutter des Jungen Dorm Sophea, ist auf das Geld angewiesen, das ihr Sohn im Waisenhaus verdient
Foto: Maria FeckEinen 2000-Dollar-Kredit hat sie dafür bei der Bank aufgenommen. Ihr Sohn habe selbst ins Heim gehen wollen, sagt Norm. Manchmal, wenn sie ihn sehr vermisse, besonders am Abend, rufe sie ihn auf dem Handy an.
Wenn man ihren Sohn fragt, was er am meisten vermisse, muss er nachdenken. Seine liebste Erinnerung sei das gemeinsame Abendessen, sagt er schließlich. Manchmal habe seine Mutter dabei etwas Lustiges erzählt, und alle hätten zusammen gelacht.
Wenn er bei den Little Angels Spaß haben will, etwa Fußball spielen, müsse er den Leiter um Erlaubnis fragen. Der sage dann: "Aber nur ganz kurz."
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.
Anmerkung: In einer ersten Version dieses Artikels war der Titel des Liedes, das im Waisenhaus von den Kindern gesungen wird, mit "You Raised Me Up" angegeben, tatsächlich lautet er "You Raise Me Up", was eher mit erheben statt großziehen zu übersetzen ist.