
Saudi-Arabien: Kampf der Geschlechter-Apartheid
Kampf gegen Geschlechter-Apartheid Brandbrief für Saudi-Arabiens Frauen
Was Scheich Ahmed al-Ghamdi zu Papier gebracht hatte, war unerhört - zumindest für saudische Verhältnisse: Schon zu Zeiten des Propheten Mohammed sei es üblich gewesen, dass nicht miteinander verwandte Männer und Frauen in der Öffentlichkeit aufeinandertrafen. Somit sei dies auch heute akzeptabel, schrieb Ghamdi. Läden, Restaurants, Shopping-Malls und Büros, in denen beide Geschlechter verkehren oder Schulen, an denen Jungen und Mädchen zusammen lernen: Das sei doch alles bloß natürlich.
Mit seinem Artikel, den der Scheich im Dezember in der saudischen Zeitung "Okaz" veröffentlichte, entfachte er einen Sturm, der sich bis heute nicht gelegt hat. Denn seine Ansichten erschüttern nicht nur die Grundfesten des Alltagslebens im sittenstrengen Saudi-Arabien. Sie wurden zudem noch von einem Mann geäußert, dessen oberste Aufgabe es ist, die Moral im Land hoch zu halten. Ghamdi ist nämlich Chef des "Komitees für die Propagierung von Tugend und Verhinderung von Sünde" in Mekka, der heiligsten Stadt des Islam. Es sind die Männer seiner Religionspolizei, die überwachen, dass fremde Männer und Frauen in der Öffentlichkeit Abstand voneinander halten.
Ghamdi ging in seinem Text sogar noch weiter: Wer die Geschlechtertrennung mit der Scharia, der islamischen Rechtsprechung, begründe, liege nicht nur falsch. Dies zu tun sei ein "gefährlicher Akt", der ein schlechtes Licht auf den Islam werfe, wetterte er.
Die vom Polizeichef angegriffenen Fundamentalisten schlugen mit aller Macht zurück. Der prominente Geistliche Scheich Abdulrahman al-Barrak verdammte Ghamdi als "Modernisierer". Er verkündete, das gemeinsame Auftreten von Männern und Frauen sei tabu, weil es "den Anblick des Verbotenen möglich mache, ebenso wie verbotene Gespräche zwischen Männern und Frauen". Dann drehte der greise Scheich richtig auf: Wer das ändern wolle, sei "ein Ungläubiger", wer solchem Gedankengut nicht abschwöre, "muss getötet werden". 27 Geistliche unterzeichneten einen Brief, in dem sie sich Barraks Meinung anschlossen.
Der Frontalangriff auf Ghamdi wurde von Zeitungs- und Fernsehberichten der saudischen Medien flankiert. Doch die massiven Beleidigungen in diversen Talkshows (er habe gar kein Recht, den Titel eines Scheichs zu tragen, habe seinen Doktortitel im Internet gekauft, hieß es da) ließen Ghamdi ungerührt. Statt einzuknicken, legte der 47-Jährige nach: Auch das Gesetz, nachdem alle Geschäfte in Saudi-Arabien fünfmal am Tag zu den Gebetszeiten geschlossen werden müssten, stehe nicht im Einklang mit dem Koran.
Der Streit eskalierte, auch Mitglieder des Königshauses schalteten sich ein. Prinz Khalid bin Talal forderte die Absetzung des Polizeichefs, und tatsächlich hieß es zu Beginn dieser Woche zunächst, Ghamdi sei seines Postens enthoben worden. Stunden später jedoch zog die saudische Nachrichtenagentur die Meldung zurück. Seitdem überschlagen sich die Spekulationen, was aus Ghamdi wird.
Kulturkampf zwischen Ultrakonservativen und Reformern
Der Zwist illustriert den Kulturkampf, den sich Ultrakonservative und Reformer seit Monaten im saudischen Königreich liefern. Auf der einen Seite steht der mächtige Klerus, der um seinen Einfluss fürchtet. Auf der anderen gibt es die Modernisierer, die die mittelalterlichen Verhältnisse satt haben. Hilfe bekommen die Reformer dabei von allerhöchster Stelle: König Abdullah - vier Ehefrauen, sieben Söhne, 15 Töchter - steht gemischtgeschlechtlichen Unternehmungen durchaus offen gegenüber. Im September 2009 eröffnete er an der saudischen Rotmeer-Küste eine nach ihm benannte Technische Universität. Dort studieren neben 700 Männern auch 120 Frauen - und die Studenten beider Geschlechter dürfen sich auf dem Campus frei bewegen und sogar miteinander sprechen.
Doch auch wenn der vor fünf Jahren inthronisierte König sanft auf gesellschaftlichen Wandel drängt: Noch ist Saudi-Arabien das Land mit der striktesten Geschlechtertrennung weltweit. Behörden und Banken haben getrennte Eingänge für Männer und Frauen. Universitätsprofessoren unterrichten ihre Studentinnen per Video-Schalte, der diese im Nachbarhörsaal lauschen. Firmen, die Frauen anstellen, müssen Räume oder Geschosse nur für diese Mitarbeiter einrichten, Einkaufszentren haben "weibliche Stockwerke". Die Handelskammer von Jeddah führte kürzlich unterschiedliche Arbeitszeiten für Männer und Frauen ein, damit diese sich bei der Ankunft nicht begegnen. "Geschlechter-Apartheid" nennt die bekannte saudische Bloggerin Iman al-Nafschan das herrschende System.
Auspeitschungen, Amputationen von Händen und Füßen bei Dieben, Todesstrafen gegen "Hexer": Saudi-Arabien sorgt mit seinem archaischen Rechtssystem zwar immer noch regelmäßig für Aufsehen. Doch das Königsreich wandelt sich still und leise - saudische Blogs zu weltlichen, modernen Themen werden von Zehntausenden gelesen, kontroverse Themen auf ihnen erstaunlich offen diskutiert.
Dieser Drang nach einem Wandel schlägt sich auch aufs öffentliche Leben nieder. Neuerdings dürfen weibliche Anwälte Plädoyers vor Gericht halten, bei den nächsten Regionalwahlen sollen nicht nur Männer wählen dürfen. Der König hat eine Frau zum Vizeminister für Frauenbildung gemacht, sie ist das höchstrangige weibliche Mitglied in der Regierung.
Demnächst könnte eine weitere kleine Revolution anstehen: Der Hohe Islamische Rat in Riad hat empfohlen, das Fahrverbot für Frauen zu lockern. Die Fahrerin muss demnach über 30 Jahre alt sein und die Erlaubnis eines männlichen Verwandten haben. Sie dürfte an Wochentagen von 7 bis 20 Uhr innerhalb der Stadtgrenzen auf den Straßen unterwegs sein, am islamischen Wochenende von 12 bis 20. Schon in zwei Monaten könnten sich also saudische Frauen ans Steuer setzen dürfen, berichtet die Website "Elaph".