Kampf um Gleichberechtigung Homosexuelle fühlen sich von Obama verraten
Selbst der Nieselregen hielt sie nicht ab. Erst waren es nur eine Handvoll, dann ein paar Dutzend, schließlich Tausende, die vom West Village durch den Verkehr zum Union Square marschierten, Sprechchöre skandierend. Viele trugen Poster und Banner: "Bürgerrechte sofort", "Gleichberechtigung für alle Familien", "Keine Toleranz für Intoleranz".

Demonstration für die Homo-Ehe in New York: Schwule und Lesben sind von Obama enttäuscht
Foto: Frank Franklin II/ APEin Transparent jedoch zeigte ein Porträt von US-Präsident Barack Obama - sein Profil, zum Januskopf gedoppelt. "Yes we can", stand auf der linken Seite, Obamas Wahlkampfslogan von 2008. Und auf der rechten: "No we can't." Der Marsch, der sich da neulich durch Manhattan zog, richtete sich namentlich gegen die Weigerung des Obersten Gerichts von Kalifornien, das Referendum zum Verbot der Homo-Ehe wieder zu annullieren. Doch viele der Demonstranten - meist Schwule und Lesben - hatten noch ein anderes Feindbild: Obama.
Dessen - zumindest von ihnen so empfundene - Doppelzüngigkeit treibt sie nämlich fast noch mehr zur Weißglut als der eigentliche Anlass ihres Aufruhrs. Denn Obama hat sich ihrer Meinung nach bisher darum gedrückt, zum jüngsten Akt des ewigen US-Kulturkriegs um die "gay marriage" offen Stellung zu beziehen - allen Hoffnungen seiner schwulen Vasallen zum Trotz. "Wo ist Obama?", fragte Lisa Ackerman, eine Anwältin, die mit ihrer Freundin durch den Regen marschierte. "Sein Schweigen spricht Bände."
Wo ist Obama?
Diese Frage stellt sich Schwulen und Lesben hier immer öfter. Trotz langer Skepsis hatten sie sich bei der Wahl fast geschlossen auf Obamas Seite geschlagen, nachdem Hillary Clinton ausgeschieden war. Im Gegenzug hatte sich Obama als ihr "flammender Advokat" empfohlen und ihnen unter anderem versprochen, die berüchtigte Pentagon-Praxis zur Aussonderung schwuler Soldaten ("Don't ask, don't tell") aufzuheben und ihnen den Weg zum Eherecht ebnen zu helfen.
Doch bis heute warten Amerikas Schwule und Lesben vergeblich auf das Einhalten solcher Wahlversprechen. Während die USA an allen Fronten immer deutlicher auf eine Lockerung der schwulenfeindlichen Politik zusteuern, hat sich das Weiße Haus dazu eingeigelt. Mehr noch: In manchen Fragen hat es den Schwulen sogar neue Stolpersteine in den Weg gelegt.
"Legitimes Interesse der Regierung an militärischer Disziplin"
Am Montag schloss sich der Oberste Gerichtshof der USA der Linie der Regierung an und lehnte es ab, den Einspruch eines Ex-Soldaten gegen "Don't ask, don't tell" anzuhören. Das Gesetz von 1993, das offen homosexuelle Soldaten vom Militärdienst ausschließt, diene "dem legitimen Interesse der Regierung an militärischer Disziplin", verteidigte Obamas Generalstaatsanwältin Elena Kagan die strittige Vorschrift vor dem Supreme Court.
Das war nur das jüngste in einer Kette von Beispielen, die der US-Schwulenlobby die Freude am Präsidenten verdorben haben. Für manche bestätigen sich damit Zweifel, die sie schon hatten, als Obama den Massenprediger Rick Warren das Bittgebet bei seiner Vereidigung sprechen ließ - Warren lehnt die Homo-Ehe ab.
"Don't ask, don't tell" (DADT genannt), Homo-Eheverbot, schleppende Aids-Bekämpfung, Visa- und Green-Card-Verbot für HIV-Infizierte: "Wo ist unser flammender Advokat?", schreibt Richard Socarides, Bill Clintons Schwulen-Koordinator, in der "Washington Post". Obama jongliere so viele Themen, kümmere sich um so viele Gruppen - nur nicht um Homosexuellen. "Wo ist unser New Deal?" Zwar erklärte Obama den Monat Juni jetzt per präsidialer Proklamation zum "Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Pride Month". Konkrete Zusagen blieb er dabei aber schuldig. "Guter Start", schreibt Schwulenaktivist David Mixner dazu auf seinem Blog. Doch: "Worte sind kein Ersatz für Taten." Mit seiner Zurückhaltung läuft Obama dem nationalen Trend entgegen: Der Kampf um die Gleichstellung von Homosexuellen hat sich längst zum "fast unausweichlichem Marsch" aufgeheizt, wie Ex-Gouverneur Jim McGreevey - der sich 2004 outete und zurücktrat - jetzt im Interview mit dem "New York Times Magazine" sagte.
So wird die Homo-Ehe mittlerweile in sechs Bundesstaaten anerkannt. Das Referendum von Kalifornien gilt bei den meisten Aktivisten dabei als nur vorübergehendes Straucheln.
"Dies ist zu einer Frage der Bürgerrechte geworden", sagte auch Evan Wolfson, der Exekutivdirektor der Lobbygruppe Freedom to Marry, zu Frank Rich, dem offen schwulen Starkolumnisten der "New York Times". "Und Obama hat sich dem noch nicht gestellt." Wolfson vergleicht die Situation mit den sechziger Jahren, als die Schwarzenbewegung stagnierte und erst dank des Engagements von Präsident Lyndon B. Johnson zum Durchbruch kam. Den Homosexuellen fehle es an einer "überragenden Figur", wie sie Obama sein könnte. Doch der beschränkt seine Referenzen bisher auf lahme Schwulenwitze.
Viele Schwule wollen sich damit nicht abfinden. "Wie lange geben wir ihm noch den Vertrauensbonus?", fragt Mixner. Der legendäre Aktivist Cleve Jones, der einst das weltberühmte Aids-Quilt initiierte, rief für den 11. Oktober zum "Marsch auf Washington" auf, bei dem sich Schwule und Lesben am Lincoln Memorial versammeln sollen, wo einst Martin Luther King seine "I Have A Dream"-Rede hielt.
Obama bittet um Geduld
"Deine Zeit ist abgelaufen, Mr. President", sagt der New Yorker Stylist Stephen Dimmick. "Dein Schweigen zum ohrenbetäubenden Ruf der Schwulengemeinde ist eine Schande." Dimmick erinnert an das Schweigen eines anderen US-Präsidenten: Ronald Reagan sprach das Wort Aids erst 1987 aus. Da waren schon mehr als 20.000 Amerikaner an der Immunschwächekrankheit gestorben.

Demonstration für die Homo-Ehe in New York: Schwule und Lesben sind von Obama enttäuscht
Foto: Frank Franklin II/ APIntern hat Obama um Geduld gebeten. Im Mai lud er Vertreter prominenter Schwulengruppen ins Weiße Haus, wo er sie zwar nicht selbst empfing, sie mit Vizestabschef Jim Messina aber "legislative Strategien" beraten durften.
Messina bekam, wie die Website "Politico" berichtete, die Dringlichkeit der Sache neulich auch in Los Angeles bei einer Fundraising-Gala mit Obama von einem Aktivisten persönlich übermittelt - auf der Toilette des Beverly Hills Hilton. Derweil protestierte draußen auf der anderen Straßenseite eine laute Gruppe unter Beteiligung von Dan Choi, eines Arabisch sprechenden Linguisten, den die Armee wegen seiner Homosexualität gerade gefeuert hatte.
Welche Ironie: Das Militär entlässt einen Mann, von dessen Qualifikation es ohnehin viel zu wenige hat. "Don't ask, don't tell" wird heute denn auch von fast 70 Prozent der Amerikaner abgelehnt, und in einer Gallup-Umfrage hatten jetzt selbst 58 Prozent der Konservativen nichts gegen schwule Soldaten einzuwenden.
Obama versichert zwar, er wolle DADT letztendlich abschaffen - doch nur "auf vernünftige Weise, die unsere Truppen und unsere nationale Sicherheit kräftigt". Obama-Sprecher Ben LaBolt präzisiert das: So lange der Kongress kein anderslautendes Gesetz erlasse, werde der Präsident das alte "verteidigen".
Selbst Cheney hat nichts gegen die Homo-Ehe
Rachel Maddow, offen lesbische Anchorfrau des Kabelsenders MSNBC, gibt sich damit nicht zufrieden. In ihrer Show zeigte sie neulich einen Videoclip aus dem Wahlkampf, in dem Obama zur Aufhebung von DADT sagte: "Das Einzige, das dazu nötig ist, ist Führungskraft." Zumal die Fronten dabei kaum mehr entlang Parteilinien verlaufen - sondern nach Generationen. In einer CBS-Umfrage vom April unterstützten 42 Prozent die Legalisierung der Schwulenehe, neun Prozent mehr als im März - und fast doppelt so viele wie 2004. Bei den unter 40-Jährigen - der "Obama-Generation" - lag die Zustimmung sogar bei 57 Prozent.
Selbst Ex-Vizepräsident Dick Cheney, dessen Tochter Mary lesbisch ist, hat nichts gegen die Homo-Ehe und sagt das auch öffentlich - womit er progressiver agiert als Obama. Und der bisher dramatischste Versuch, das Eheverbot am Supreme Court anzufechten, ist eine Allianz zweier einstiger politischer Erzfeinde: Staranwalt Ted Olsen, der beim Auszählstreit der Wahl von 2000 George W. Bush vor dem Gericht vertrat, und sein damaliger Rivale David Boies. "Dies ist keine republikanische oder demokratische Frage mehr", sagte Olson zu CNN-Talker Larry King.
Doch das Weiße Haus will offenbar zunächst nur etwas "kleinere" schwule Reizthemen anpacken. Etwa die Verschärfung der Gesetze gegen Hassverbrechen und das Visa-, Green-Card- und Einbürgerungsverbot für HIV-Infizierte, das seit der Reagan-Ära besteht.
Das reicht vielen nicht. "Er ist ein Feigling", schimpfte der frühere Armee-Infanterist James Pietrangelo in einem Interview mit "Time" über Obama. Es war Pietrangelos Einspruch gegen seine eigene Entlassung gewesen, den der Oberste US-Gerichtshof diese Woche ablehnte. "Wenn Millionen Schwarze Zweite-Klasse-Bürger wären, dann hätte er sofort gehandelt."