Kampf um Irans Zukunft Schockwellen in Chameneis Machtsystem
Beirut - Was die iranischen Medien an diesem Montag zu berichten hatten, klang wie ein Zugeständnis an die Opposition - mit immenser Sprengkraft für die politische Zukunft des Landes. Bei der Präsidentschaftswahl vor anderthalb Wochen seien in 50 Bezirken mehr Stimmen abgegeben worden, als es dort registrierte Wähler gab. Das habe Abbas Ali Kadchodai mitgeteilt, der Sprecher des Wächterrats, berichtete das Staatsfernsehen. Drei Millionen Stimmen seien betroffen.
Zwar wurde noch hinzugefügt, das Problem könne auch dadurch verursacht worden sein, dass Irans Wähler auch in fremden Bezirken abstimmen dürfen - außerdem würden drei Millionen Stimmen bei insgesamt 38 Millionen Stimmen nicht viel am Ergebnis ändern. Und doch schien sich der Betrugsvorwurf zu bestätigen, den die Opposition seit Mahmud Ahmadinedschads angeblichem Wahlsieg erhebt.
Vier Tage nach der Wahl hatte der Wächterrat versprochen, stichprobenartig Stimmen neu zählen zu lassen. Nur wenige Iraner glaubten daran, dass dabei irgendetwas anderes herauskommen würde als das alte Resultat. Denn die zwölf Posten im Wächterrat sind ausnahmslos mit Hardlinern besetzt. Und auch der mächtigste Mann im Staat, Revolutionsführer Ajatollah Ali Chamenei, hatte klargemacht, dass für ihn Ahmadinedschads Sieg über seinen Herausforderer Hossein Mussawi feststeht. "In der Islamischen Republik gibt es keinen Wahlbetrug", sagte er in einer vielbeachteten Freitagspredigt. Wer jetzt noch protestiere, sei Feind des Systems und greife letztlich den Islam an. Umso überraschender kam nun der Bericht im iranischen Staatsfernsehen - der allerdings nicht unwidersprochen blieb.
Einige Stunden nach den ersten Nachrichten über die drei Millionen verdächtigen Stimmen dementierte der Wächterrat über die staatliche Nachrichtenagentur Irna die Behauptungen. Man habe keine Unregelmäßigkeiten bei der Wahl zugegeben, wurde der Sprecher des Wächterrates zitiert. Dass es in 50 Bezirken zu Unstimmigkeiten gekommen sei, sei lediglich der Vorwurf der drei unterlegenen Gegner Ahmadinedschads.
Der ganze Vorfall zeigt, wie diffizil das Machtgefüge in Iran derzeit ist - und dass Brüche zwischen Chamenei, dem Wächterrat und anderen Teilen der islamischen Eliten durchaus vorstellbar sind. Seit Tagen häufen sich die Anzeichen, dass die politische Führung des Landes, die so lange als scheinbar monolithischer Block regierte, tief gespalten ist.
Übers Wochenende scheint die Kluft zwischen Konservativen und Reformorientierten weiter aufgerissen zu sein. Unter den Kritikern, die ihren Unmut äußern, sind einige der einflussreichsten Männer im Staat. Der ehemalige Präsident Mohammed Chatami mahnte, es werde gefährliche Folgen haben, sollten die Demonstranten auf den Straßen behindert werden. Es sei keine Lösung, "Beschwerden an Gremien zu übergeben, die die Rechte der Menschen beschützen sollen - aber selbst Ziel von Kritik sind". Gemeint war die erneute Stimmauszählung durch das unter Fälschungsverdacht stehende Wahlkommitee.
Auch im Klerus mehren sich kritische Zwischenrufe. Der reformorientierte Großajatollah Hossein Ali Montaseri forderte am Sonntag auf seiner Website zu einer dreitägigen Staatstrauer für die Toten des Protests auf: "Aus religiöser Sicht ist es verboten, sich den Forderungen der Menschen zu widersetzen."
Auch der weitaus konservativere Großajatollah Safi Golpaygani äußerte sich am Sonntag erstmals zur Wahl - geradezu prophetisch teilte er mit: "Wenn die Auseinandersetzungen weitergehen, wird das Fundament des Systems geschwächt."
Dass sich Teile der islamischen Eliten jetzt öffentlich auf Seiten der Opposition schlagen, ist das Resultat von vier Jahren Demütigung. Ahmadinedschad machte in seiner ersten Amtszeit wenig Hehl aus seiner Abneigung gegenüber den wichtigen Gelehrten in der Heiligen Stadt Qom. Chamenei wiederum zieht den Groll vieler Geistlicher auf sich, weil er einst seinen religiösen Rang als Ajatollah im Schnellverfahren erwerben durfte - um die Nachfolge des ersten Revolutionsführers Ajatollah Ruhollah Chomeini antreten zu können. Das ist in Qom unvergessen und nicht verziehen.
Besonders auffällig ist, dass sich Ex-Präsident Ali Akbar Haschemi Rafsandschani in Schweigen hüllt. Er ist nicht nur einer der reichsten Männer der Welt - er ist auch eine zentrale Macht im Hintergrund. Er war es, der nach Chomeinis Tod Chamenei zu dessen Nachfolger machte. Doch während Chamenei im Laufe der Zeit immer konservativer wurde und seine Machtbasis im Militär suchte, wandelte sich Rafsandschani zum Moderaten.
Er soll Mussawis Kandidatur diskret, aber mit sehr viel Geld unterstützt haben. Dass er Ahmadinedschad für einen Emporkömmling hält, daran hat der Milliardär nie einen Zweifel gelassen. Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit - im Wahlkampf hat Ahmadinedschad Rafsandschanis Verwandte öffentlich der Korruption bezichtigt.
Beobachter glauben, dass sich Rafsandschani gezielt zurückhält, um sich politischen Spielraum zu sichern. Er gilt als einer der wenigen an der Staatsspitze, deren Machtbasis breit genug für einen möglichen Kompromiss ist. Denn er ist Chef des Expertenrats. Dieses Gremium (siehe Grafik) könnte eine Absetzung des Revolutionsführers Chamenei beschließen. Das wäre ein Novum in der Geschichte der Islamischen Republik Iran - auf jeden Fall ist es ein Druckmittel. Rafsandschani ist einer der wenigen, der Chamenei gefährlich werden kann.
Der Ajatollah und sein Schützling Ahmadinedschad scheinen zu ahnen, dass womöglich Rafsandschani über ihre weitere Karriere im System entscheiden wird. Dass am Sonntag fünf Familienangehörige Rafsandschanis verhaftet wurden, muss als Warnung gedeutet werden - es soll Gegendruck auf den mächtigen Mann im Hintergrund aufgebaut werden.
Wie der Machtkampf ausgehen wird, ist nicht abzusehen. Womöglich setzt sich in Irans Elite eine alte Erkenntnis aus den Lehrbüchern der Politikwissenschaft durch - dass sich vieles ändern muss, damit vieles bleiben kann, wie es ist.