Aufstand in Katalonien Der Flashmob-Protest

Die spanische Polizei jagt eine Protestgruppe, die den Aufstand in Katalonien entscheidend mitbestimmen könnte. Über den Telegram-Kanal "Tsunami Democràtic" organisieren sich Tausende junge Separatisten.
Eine Stunde Vorlaufzeit: Demonstranten beim Besuch von Pedro Sánchez in Barcelona

Eine Stunde Vorlaufzeit: Demonstranten beim Besuch von Pedro Sánchez in Barcelona

Foto: Toni Albir/EPA-EFE/REX

Das Kommando kommt um 11:57 Uhr: "Dringender Aufruf an die Bürger von Barcelona, jetzt und heute!" Die Nachricht wird über die Messenger-App Telegram auf Hunderttausende Handybildschirme gepusht. "Heute besucht der spanische Präsident Katalonien, machen wir ihm klar: Sit & talk" - hinsetzen und reden! Mehr als 400.000 Menschen sehen die Nachricht.

Eine Stunde später stehen Hunderte Katalanen, die meisten von ihnen Teenager oder Anfang Zwanzig, vor dem Gebäude, in dem die Vertretung der spanischen Zentralregierung untergebracht ist. Die Menge skandiert: "Llibertat, presos polítics" - "Freiheit für die politischen Gefangenen."

Pedro Sánchez, der spanische Ministerpräsident, spielt an diesem Montag ein Katz- und Maus-Spiel mit den Demonstranten. Seinen Aufenthaltsort verrät er immer erst, wenn er schon da ist. Die Delegation der Zentralregierung, vor dessen Sitz die Katalanen ihn erwarten, besucht er am Ende doch nicht. Ob die spontane Blockade der Grund war, bleibt ungewiss. Die Demonstranten aber glauben fest daran, sie feiern Sánchez Abwesenheit wie einen Sieg.

Der Telegram-Kanal, durch den sich die Aufrufe verbreitet haben, heißt Tsunami Democràtic, demokratischer Tsunami. Die Plattform ist die neueste Organisationsform des katalanischen Protestes - und sie ist anders als alles, was die Separatisten bisher geplant und durchgeführt haben.

Statt auf lange angekündigte Protestmärsche setzt Tsunami Democràtic auf eine Art Flashmob-Protest. Nur eine kleine Gruppe von Eingeweihten weiß vorher über die Aktionen Bescheid. Im entscheidenden Moment kommt dann das Kommando zum zivilen Ungehorsam oder zur Demo, gerade noch rechtzeitig, damit die Separatistenanhänger pünktlich vor Ort erscheinen können.

Hunderttausende Follower in wenigen Wochen

Es ist gut möglich, dass diese Gruppe die nächste Phase der Unruhen entscheidend mitbestimmt. Die traditionellen Methoden, das ist den meisten Unabhängigkeitsbefürwortern klar, gelten nach dem Urteil gegen katalanische Aktivisten und Politiker als gescheitert. Der Oberste Gerichtshof in Madrid hatte neun Anführer der katalanischen Separatisten zu langen Gefängnisstrafen zwischen 9 und 13 Jahren verurteilt.

Wer hinter Tsunami Democràtic steckt, ist unklar. Die spanische Polizei ermittelt und hat die Internetseite der Gruppe bereits sperren lassen. Es gibt einen Twitteraccount, der niemandem folgt, dazu eine App, in der man sich durch einen QR-Code identifizieren muss, der nur persönlich weitergegeben wird. 200.000 Follower hat die Kampagne auf Twitter, 370.000 auf Telegram, mehr als 35.000 Menschen haben die App nach eigenen Angaben heruntergeladen und sich verifiziert.

"Wir sind gerannt wie noch nie im Leben"

Den Kommandos des Tsunami folgen Leute wie Oriol, Ignasí, Andrea und Mónica, alle zwischen 21 und 25. Sie kommen aus einem Dorf, das eine halbe Autostunde südlich der katalanischen Metropole Barcelona liegt. Sie wünschen sich, dass Katalonien unabhängig wird, sie hatten sich schon vor zwei Jahren engagiert, als viele Katalanen beim illegalen Referendum über einen eigenen Staat abstimmten.

Seither ist ihre Enttäuschung gewachsen - nicht nur über die Zentralregierung in Madrid, die auf die staatliche Einheit pocht, sondern auch über die katalanischen Politiker, die nicht gehalten hätten, was sie versprochen hatten.

Deshalb wollten die Freunde protestieren, als das Urteil des Obersten Gerichtshofs in Madrid verkündet wurde. Am Montag vor zwei Wochen war es so weit. Oriol kam gerade aus der Vorlesung, als er auf Andrea traf, die ihn informierte: Über Twitter und Telegram hatte sie die Nachricht erhalten, dass man sich aufmachen sollte zum Flughafen von Barcelona, um ihn zu blockieren. Ohne zu zögern, sei er losgezogen.

Da mit dem Auto kein Durchkommen war, liefen die beiden Studenten fast zwei Stunden auf der Autobahn in Richtung Flughafen. "Da kommt eine Nachricht über Telegram, du kennst den Absender nicht, aber Tausende gehen hin", sagt Oriol fasziniert und ein wenig erstaunt über sich selbst.

Dieser Montag vor zwei Wochen hat die Freunde stark aufgewühlt. Zuerst seien sie weit weg vom Geschehen gewesen, in der Masse vor den Eingängen zum Terminal. Dann habe die Polizei begonnen, die Menschenmenge aufzulösen. Andrea und Mónica seien gerannt, "wie noch nie im Leben".

Protest am Flughafen Barcelona: "Du kennst den Absender nicht, aber Tausende gehen hin"

Protest am Flughafen Barcelona: "Du kennst den Absender nicht, aber Tausende gehen hin"

Foto: AP/Bernat Armangue

Innerhalb weniger Minuten, erzählt Oriol, hätten er, Ignasí und dessen kleine Schwester plötzlich direkt den Polizisten gegenübergestanden. Um das Mädchen zu schützen, hätten sie die Prügel mit den Schlagstöcken eingesteckt. Er hinke immer noch, sagt Oriol. Seitdem waren die Freunde immer wieder bei Demonstrationen dabei.

Die unangekündigten Proteste am Flughafen erinnerten an das Vorgehen der Jugendlichen in Hongkong. Am vergangenen Dienstag kursierte eine Botschaft der Aktivisten aus der ehemaligen Kronkolonie im Internet. Sie war an die "Kämpfer für die Freiheit Kataloniens" gerichtet und enthielt Empfehlungen wie "Lasst nicht zu, dass Politiker Eure Bewegung anführen" oder "Wenn Ihr eine Spezialaktion macht, tragt Handschuhe und seht zu, dass alle Überwachungskameras zugeklebt sind".

Friedliche und gewalttätige Proteste seien nur "zwei Seiten derselben Münze", heißt es in der Botschaft weiter: Wenn sie eine der beiden Seiten aufgäben, "habt Ihr verloren". Der Schlussgruß: "Hongkong ist nicht China, Katalonien ist nicht Spanien." Doch viele der derart agitierten jungen Demonstranten scheinen zu vergessen, dass Spanien nicht China ist.

Bisher hat der Tsunami Democràtic drei Mal kurzfristig zu friedlichen Protesten aufgerufen. Zudem sorgte das Netzwerk dafür, dass #SpainSitAndTalk auf Twitter trendete. Im Gegensatz zu anderen bekannten Telegram-Kanälen, die in den letzten Wochen entstanden sind, postet der Tsunami nur, wenn es wirklich wichtig ist.

Die Aktivisten nutzen das Vakuum in der katalanischen Politik

Persönliche Interviews wollen die Organisatoren der Flashmob-Proteste nicht geben. Tsunami sei ein horizontales Netzwerk, das sich schnell verändern und anpassen könne, heißt es in einer E-Mail an den SPIEGEL. Die Abwesenheit einer Führungsfigur hat den Vorteil, dass sich einzelne Mitglieder zurückziehen oder kürzertreten können, ohne dass die Organisation Schaden nimmt.

Mit der App will das Netzwerk offenbar vor allem die Möglichkeit nutzen, per Ortungsdienst den Standort der Nutzer zu erfahren. Sobald sich genug Menschen angemeldet haben, könnten die Organisatoren so binnen kürzester Zeit kleinere lokale Proteste initiieren. Die QR-Codes, die nur von Aktivist zu Aktivist weitergebeben werden, sollen verhindern, dass die App unterwandert wird.

Die Plattform hätte wohl nie so schnell so viele Anhänger gefunden, wenn ihre Accounts und Websites nicht über die traditionellen Separatistenorganisationen und die wichtigsten separatistischen Politiker verbreitet worden wären. Die Parteien und Bürgerorganisationen, die zuvor den katalanischen Protest bestimmt hatten, seien aber lediglich über die generellen Absichten des Tsunamis informiert worden, schreibt Tsunami Democràtic, nicht über konkrete Pläne oder Aktionen.

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Das deckt sich mit spanischen Presseberichten , nach denen wohl einige Aktivisten, die sich von früheren Aktionen kannten, den Tsunami erdachten. Sie nutzten das Vakuum, das derzeit die katalanische Politik bestimmt, da sich auch die separatistischen Parteien nicht einig sind, wie es weitergehen soll.

Die Polizei sucht seit Tagen nach den Hintermännern, die spanischen Geheimdienste seien sehr effizient, betonte der Innenminister: Man werde die Organisatoren finden. Unklar ist aber auch, inwieweit der Tsunami mit jenen Gruppen zu tun hat, die in den vergangenen Tagen gewaltsam in Barcelona protestierten. Öffentlich ruft die Gruppe stets zu Friedfertigkeit auf.

Die Ermittler des Nationalen Gerichtshofs in Madrid vermuten laut Medienberichten , dass hinter den Kulissen des Tsunami Aktivisten die Fäden ziehen, die auch vorher schon die radikaleren Protestformen des katalanischen Aufstands vorangetrieben haben: die sogenannten Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR) sowie die neue, radikale Abspaltung ERT (Equipe zum taktischen Gegenschlag). Sie setzen auf brennende Barrikaden und Straßenschlachten mit der Polizei.

Sicher ist derzeit nur: Von langer Hand vorbereitete Massendemonstrationen beeindrucken nicht einmal mehr die Katalanen. Am Wochenende demonstrierten zwar wieder Hunderttausende Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit in Barcelona. Zum Gegenmarsch der Separatisten kamen aber nur rund 350.000 Katalanen, die geringste Zahl der letzten acht Jahre.

Die Organisatoren des Tsunami nutzten die Demo vor allem, um die QR-Codes, mit denen man sich in der App verifizieren kann, an vertrauenswürdige Demonstranten zu verteilen. Die nächste große Aktion soll am 9. November stattfinden - einen Tag vor den spanischen Parlamentswahlen.

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