
Katalonien-Konflikt Es lebe die Nation...


Katalanen protestieren in Barcelona
Foto: PAU BARRENA/ AFPBarcelona, das ist ein Signal. 450.000 Menschen demonstrieren auf den Straßen für die Unabhängigkeit. Ja, Madrid hat das Gesetz auf seiner Seite. Aber was ist das für ein Gesetz, gegen das 450.000 Menschen demonstrieren? In Spanien stirbt gerade der Nationalstaat. Selbst wenn er mit Gewalt am Leben erhalten werden sollte - sein Geist ist tot. Europa sollte genau hinsehen. Deutschland sollte genau hinsehen. Es könnte sein, dass in Spanien ein Prozess beginnt, der eines Tages den ganzen Kontinent erfasst: das Ende des Nationalstaats, die Renaissance der Region, die Geburt eines neuen Europas. Und wenn es so wäre: Gut so! Die Nationen sollen leben - aber die Nationalstaaten sterben. Wir brauchen sie nicht mehr.
Nicht alles, was Gesetz ist, ist auch Recht
Lenin soll bekanntlich gesagt haben, wenn die Deutschen Revolution machen, würden sie vor Erstürmung des Bahnhofs noch eine Bahnsteigkarte lösen. Was er meinte: Die Deutschen mögen keine Unordnung. Vielleicht ist das schon der ganze Grund, warum die katalanische Unabhängigkeitsbewegung hierzulande eine so schlechte Presse hat. Vielleicht denken die Deutschen: Rein rechtlich haben die Katalanen keine guten Karten. Nächstes Thema. Aber gerade die Deutschen sollten wissen: Nicht alles, was Gesetz ist, ist auch Recht.
Jetzt hat die spanische Regierung den Katalanen die Botschaft zukommen lassen, sie sollten den Anweisungen ihrer örtlichen Behörden nicht mehr Folge leisten, sobald Madrid die Kontrolle in Barcelona übernommen habe. Die regionale Regierung soll abgesetzt werden. Verwaltung, Polizei und öffentlicher Rundfunk sollen in die Hände von madridtreuen Spaniern gegeben werden. Die Katalanen nennen es einen Putsch. Nur, dass die Putschisten sich auf die spanische Verfassung berufen können, während die Katalanen nur ihre Sehnsucht nach Unabhängigkeit haben.
Eine solche Unabhängigkeit könnten viele Regionen in Europa für sich beanspruchen, jeder kennt die Liste: Schottland, Südtirol, das Baskenland, Flandern, die Bretagne, und so weiter - eines Tages sogar Bayern. Das bedeutet, zwischen Katalanen und Spaniern findet jetzt ein Kampf statt - und es könnte tatsächlich noch ein blutiger Kampf daraus werden - der für Europas Zukunft bedeutsam ist: der Kampf zwischen Nationalstaat und Region.
Von wegen Dystopie der Stammesgesellschaft
In der Theorie wird dieses Gefecht schon lange mit großem Kaliber ausgetragen. Robert Menasse, gefeierter Buchpreisträger, hat in einem Essay geschrieben: "Heimat ist ein Menschenrecht, Nation nicht. Heimat ist konkret, Nation ist abstrakt. Nationen haben sich bekriegt, Regionen haben gelitten, sich verbündet, immer wieder ihre Eigenheiten bewahrt, Regionen sind die Herzwurzel der Identität." Und die Politologin Ulrike Guérot schreibt, der Nationalstaat werde nicht nur nicht mehr gebraucht - er sei das "eigentliche Hindernis auf dem Weg zu einem demokratischen Europa". Von einem "europäischen Vormärz" träumt die Vordenkerin einer neuen europäischen Republik: "Nationalstaaten sind nicht der Souverän, denn Souverän sind immer nur die Bürger."
Auch zur Verteidigung des Nationalstaats werden die ganz schweren intellektuellen Geschütze aufgefahren. In der "Süddeutschen Zeitung" lud Gustav Seibt seine Schimpfkanonade gegen die katalanische Unabhängigkeitsbewegung mit Argumenten des Altliberalen Ralf Dahrendorf. Der hatte zu Beginn der Neunzigerjahre den heterogenen Nationalstaat die "größte Errungenschaft der politischen Zivilisation" genannt und vor der neuen Sehnsucht nach Homogenität in einer "Stammesexistenz" gewarnt, denn: "Selbstbestimmung lädt zur Diktatur ein."
Im neuen SPIEGEL schreibt der Historiker Heinrich August Winkler einfach: "Wer die Nationen und die Nationalstaaten abschaffen will, zerstört Europa und fördert den Nationalismus."
Nur, den Katalanen wird man damit nicht gerecht. Die zeigen eben nicht die hässliche Fratze des Nationalismus, sondern lassen ihre Nationalfahnen bei "Refugees Welcome"-Demonstrationen wehen. Von wegen dahrendorfsche Dystopie der Stammesgesellschaft. In Barcelona wird ein fröhlicher, moderner, pluralistischer Patriotismus gefeiert, der seine Heimat im Herzen Europas finden will. Davon sollten wir lernen. Denn die Wahrheit ist: Der Nationalstaat war einmal modern, inzwischen ist er ein alter Hut. Es gibt kaum eine wichtige Frage, die sich heute noch in nationalen Grenzen klären lässt. Souveränität ist für die weitaus meisten Staaten eine Illusion, für die europäischen ohnehin. Auch die Deutschen sollten ihr neuerdings wiedergefundenes Selbstbewusstsein nicht mit ihren realen Handlungsspielräumen verwechseln.
Wir müssen dem Nationalstaat keine Träne hinterherweinen. Wer sagt, die Geschichte stehe still? Karl Polanyi hat in den Vierzigerjahren über die "Große Transformation" geschrieben - sie bestand darin, dass der Kapitalismus bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die engen Grenzen des Feudalismus hinter sich gelassen hat und seine erneute Einbettung erst im Nationalstaat erfuhr. Jetzt erleben wir die nächste große Transformation: Der Kapitalismus hat inzwischen auch die Grenzen des Nationalstaats überwunden. Seine Einbettung kann er nur im entsprechend größeren Rahmen transnationaler Institutionen finden. Für uns ist das die Europäische Union.
Es gibt dazu natürlich eine Alternative: Wir verlieren die Demokratie - oder unseren Wohlstand - oder am Ende beides. Das ist ein realistisches Szenario. Aber wollen wir das?