Kaukasus-Krise Wie die Türkei zwischen Russland und dem Westen laviert
Istanbul - Wladimir Schirinowski, 62, ist Russlands schillerndster Rechtsextremist und ein großer Freund der Türkei, wie er selber sagt. "Niemand kann dich so lieben, wie ich dich liebe", sang der bullige Mann, der fließend türkisch spricht, vor Publikum in Istanbul.

Ministerpräsidenten Putin und Erdogan: Alternative Allianz
Foto: APAls Übersetzer für das Staatskomitee für Außenwirtschaft reiste der studierte Orientalist 1969 zum ersten Mal an den Bosporus, wo man ihn wegen "kommunistischer Propaganda" verhaftete; 17 Tage saß er im Gefängnis. Später schrieb er ein Pamphlet über seine Erfahrungen und empfahl seinem Land, es solle sich doch einfach sämtliche Turkvölker einverleiben, denn der russische Soldat müsse "seine Stiefel im Indischen Ozean reinigen".
Mittlerweile ist Schirinowskis Leidenschaft für den südlichen Nachbarn neu entflammt. "Lernt Russisch, schaut nicht nach Westen, schaut nach Norden", pflegt der Krawallmacher bei regelmäßigen Besuchen in der Türkei zu predigen. "Die EU möchte euch nicht, aber wir möchten euch. Wir geben euch Gas, ihr gebt uns Nüsse!"
Russland ist Handelspartner Nummer Eins
Tatsächlich sind die Türkei und Russland einander näher gekommen, nicht nur wegen der Energie-Ressourcen. Für das Nato-Land ist der größte Nachfolgestaat des Sowjetimperiums heute Handelspartner Nummer Eins. Fast 70 Prozent ihres Gasbedarfs und 50 Prozent ihrer Kohle bezieht die Türkei aus Russland. An der türkischen Riviera, in Antalya und Side, gibt es mittlerweile mehr russische als deutsche Touristen.
Und immer dann, wenn die Europäer an seiner Regierung Kritik üben, raunt Premier Recep Tayyip Erdogan von der Alternative, die er habe, da sein Land sich ja auch mit anderen verbünden könnte: Gemeint sind wohl die Russen.
Allerdings würde die Geschichte auf den Kopf gestellt werden, wenn Erdogan damit ernst machen würde. Der Krimkrieg von 1853 bis 1856, der erste moderne Stellungskrieg mit - für damalige Verhältnisse - einer hohen Anzahl von Opfern, war der insgesamt neunte russisch-türkische Waffengang. Weitere folgten, bis das Osmanische Reich in Trümmern lag. Dann tat Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, was er konnte, um sein Werk gegen Stalins Agenten abzuschirmen. Seinen Nachfolgern war es später recht, als die USA Atomraketen in Anatolien stationierten - und ganze Wälder an Antennen, um die Sowjets auszuhorchen.
Die Türken als Muster-Europäer
Die Türkei hat als Regionalmacht immer nach Westen geschaut, das ist ein in der Debatte um ihren EU-Beitritt mitunter übersehenes Verdienst. Die Regierung bot 1999 Bodentruppen an im Konflikt mit dem serbischen Chauvinisten Slobodan Milosevic. Dazu unterhalten die Türken, wie die Europäer, gute Beziehungen zu Israel, und sie stemmen sich, wie der Westen, gegen Irans Atommacht-Ambitionen. Am Dienstag vergangener Woche unterschrieb Außenminister Ali Babacan einen "Strategie-Vertrag" mit den arabischen Golfstaaten, der gegen die Teheraner Theokratie gerichtet ist.
Es waren auch die Türken, die jene Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline (BTC) vorangetrieben haben, durch die, an Russland und Iran vorbei, kaspisches Erdöl für Europa westwärts fließt. Vom Zypernkonflikt abgesehen sind die Türken, außenpolitisch gesehen, eigentlich so etwas wie Muster-Europäer.
Selten aber fiel ihnen der Balance-Akt zwischen Europa und Russland so schwer wie nach dem Krieg mit Georgien. Der Regierung Erdogan blieb kaum anderes übrig, als für die territoriale Integrität der kleinen Republik einzutreten, genau so wie die Europäische Union und die USA. Die Pipeline aus dem Kaspischen Meer sorgt für gemeinsame Interessen mit Tiflis. Das hat Konsequenzen.
Mitte August begann das russische Riesenreich damit, Ankara zu bestrafen. Seither filzen die Zöllner an der georgisch-russischen Grenze türkische Lastwagen mit großer Gründlichkeit, mehrere hundert Lkw stauen sich dort. Von Verlusten in Höhe von 500 Millionen Dollar ist die Rede. Inzwischen versprach Außenminister Sergej Lawrow, die "technisch notwendigen" Kontrollen würden bald wieder aufgehoben.
"Willkommen im lauwarmen Krieg"
Die Großmacht findet momentan reichlich Anlass zum Ärger über die Haltung der Türken. Nach Ausbruch der Kaukasus-Krise kreuzen zum Beispiel amerikanische und europäische Nato-Schiffe im Schwarzen Meer. Dass es sich dabei um Hilfstransporte für die georgische Hafenstadt Poti handeln soll, macht auf Lawrow geringen Eindruck. Er bezeichnete das Marine-Aufgebot des Westens als "Kanonenbootdiplomatie" und forderte die Türken auf, den von ihnen kontrollierten Zugang über die Meerengen am Bosporus und den Dardanellen besser zu überwachen. Laut einem internationalen Abkommen, dem 1936 unterzeichneten Vertrag von Montreux, müssen Kriegsschiffe das Schwarze Meer binnen 21 Tagen wieder verlassen.
Aber auch die USA waren unzufrieden, weil die Türken - mit Verweis auf dasselbe Abkommen - weiteren Kreuzern die Passage verweigerte. Sie seien schlichtweg zu groß, lautete die Begründung.
"Willkommen im lauwarmen Krieg", beschreibt der Kolumnist Cengiz Aktar das neue Dilemma seines Landes. Nach dem Ende des Kalten Krieges habe die Türkei ihre Fühler in alle Himmelsrichtungen ausgestreckt. Jetzt gelte es aber wieder, Prioritäten zu setzen. "Wollen wir wie unser nördlicher Nachbar auftreten und mit den Mitteln des Krieges Frieden schaffen?", fragt Aktar. "Oder wollen wir wie die Europäische Union sein und mit friedlichen Mitteln Politik machen?"
Flexibilität ist der größte Trumpf der Türkei
Die Regionalmacht Türkei zieht entspannte Verhältnisse vor, denn Flexibilität ist ihr größter Trumpf. Ihr stehen ja auch eigentlich so gut wie alle Türen offen. Gute Kontakte pflegt sie seit jeher zu den USA, zu Europa und zu Israel. Nach dem Ende der Blockkonfrontation erweiterte sie ihre Einflusssphäre zu ihren "türkischen Brüdern" in Zentralasien.
Selbst die islamisch-arabische Welt scheint näher zu rücken, seit die moderat islamische AKP von Premier Erdogan an der Macht ist. Dass es den Türken gelang, geheime syrisch-israelische Friedensgespräche zu initiieren, gilt als größter außenpolitischer Erfolg der konservativen Regierung.
Und der Georgienkonflikt? Auf die veränderte Lage im Kaukasus reagierte der türkische Ministerpräsident mit einem Vorschlag, der auch vom deutschen Außenminister stammen könnte: In einem länderübergreifenden Forum - einer "Plattform für Zusammenarbeit und Sicherheit im Kaukasus" - sollen sämtliche Staaten ihre Konflikte im Dialog lösen.
Annäherung sogar an Armenien?
Allerdings sollen, neben der Türkei und Aserbaidschan, auch die Kontrahenten Russland und Georgien sowie Armenien mit von der Partie sein - jener Staat, mit dem die Türkei sich seit Jahrzehnten einen Streit liefert um die Deutung der Massenmorde im Ersten Weltkrieg. Bis heute weigert sich Ankara, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen. Das Ende der diplomatischen Beziehungen kam 1993 jedoch aus einem anderen Grund - nachdem Armenien den Berg-Karabach, eine armenische Enklave in Aserbaidschan, militärisch unter seine Kontrolle gebracht hatte.
Immerhin: Dass Staatspräsident Abdullah Gül am vergangenen Wochenende nach Eriwan flog, um sich mit seinem Kollegen Sersch Sargsjan ein gemeinsames Länderspiel anzuschauen, könnte als erste Annäherung zwischen den Feindstaaten verstanden werden.
Und Wladimir Schirinowski? Der großrussische Nationalist hielt sich vor kurzem wieder in der Türkei auf. Er nannte die Nato im Trompeten-Ton einen "imperialistischen Verein" und schlug mal wieder vor, die Türkei solle Europa vergessen und lieber ein Bündnis schmieden mit seinem Land: dem friedfertigen, einfühlsamen Russland.