Kenias Schulen öffnen erstmals seit Shutdown im März
»Wir haben viele verloren«
Erster Schultag nach zehn Monaten hartem Shutdown: In der kenianischen Hauptstadt Nairobi zeigt sich, welch tiefe Spuren die Schulschließung hinterlassen hat – doch eine Schule hat es offenbar richtig gemacht.
Stacey, 18, war eine der Klassenbesten und wollte Jura studieren – vor dem Shutdown. Jetzt ist sie im neunten Monat schwanger. »Als die Schulen zugemacht haben, gab es nichts mehr zu tun«, sagt sie. »Also habe ich mich mit einem Jungen getroffen«
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»Lasst mich wieder ganz von vorn beginnen«, seufzt Lehrer Sixths Gwero. »40 x 31 = ?«, schreibt er mit Kreide an die Tafel und dreht sich erwartungsvoll zu den Schülern um. Ein paar Hände gehen in die Höhe, doch die meisten Grundschüler schauen verstohlen auf die Holztische vor ihnen.
Zehn Monate lang haben sie nicht mehr hier gesessen, ihre roten Schuluniformen nicht mehr getragen. Die Redrose School in Kenias Hauptstadt Nairobi war – wie alle Schulen des Landes – auf Anweisung der Regierung seit dem 16. März geschlossen. Nur einzelne Abschlussklassen durften zwischenzeitlich in den Präsenzunterricht.
Erster Schultag in der Redrose School Nairobi, Kenia. Viele Familien aus dem angrenzenden Slum Kibera schicken ihre Kinder hierher, die Privatschule ist weitaus besser als die heillos überfüllten staatlichen Schulen
Foto: Zakaria Ahmed / DER SPIEGEL
Lehrer Gwero fragt, wie der Alltag der Kinder während des Corona-Shutdowns ausgesehen habe. »Fernsehschauen«, »Hausarbeit machen« – Schulaufgaben erwähnt niemand. Ein Junge meldet sich und sagt, er sei froh wieder hier zu sein. In Kenia herrscht zwar weiterhin eine nächtliche Ausgangssperre, doch Schulen und Kindergärten öffneten diese Woche wieder. Das befürchtete exponentielle Wachstum der Covid-Infektionen war in den vergangenen Monaten ausgeblieben, die offiziell gemeldeten Todesfälle liegen in Kenia bei knapp 1.700.
Alle Schüler an der Redrose School tragen eine Maske, gerade einmal 18 Kinder sitzen in dem Raum, wo normalerweise doppelt so viele Schüler Platz finden. Die meisten an einer eigenen Schulbank. Doch mit Covid-Schutzmaßnahmen hat das wenig zu tun; nur etwas mehr als die Hälfte der Schüler und Schülerinnen sind am ersten Schultag zurückgekehrt.
An seinem Schreibtisch im Erdgeschoss unterschreibt Schuldirektor Mark Barassa Quittungen für bezahlte Schulgebühren. Viele sind es nicht an diesem Tag. Die Redrose School ist eine Privatschule, unterstützt von Sponsoren. Viele Eltern aus dem angrenzenden Slum Kibera sparen jeden Cent, um ihre Kinder hierhin statt an die heillos überfüllten staatlichen Schulen zu schicken.
Doch mit dem Ausbruch der Pandemie seien die Sponsorengelder und das Einkommen der Eltern versiegt, erzählt Direktor Barassa. Auch an Onlineunterricht war gar nicht erst zu denken: »Die Kinder in Kibera haben keine Computer, die Eltern keine Smartphones und auch kein Geld für Internet. Wir mussten während der Pandemie unsere Lehrer entlassen, niemand konnte sich um die Schüler kümmern.«
Viele Familien sind in den vergangenen Monaten zu Verwandten aufs Land gezogen, wo das Leben deutlich günstiger ist. Der Schulleiter hofft, dass in den nächsten Tagen die meisten zurückkehren, auch an seine Schule. Doch vielen fehle weiterhin das Geld für das Leben in der Stadt.
Fidel Odhiambo und Schuldirektor Mark Barassa
Foto: Zakaria Ahmed / DER SPIEGEL
Vor seinem Büro trifft Direktor Barassa auf den Achtklässler Fidel Odhiambo. Der rote Pullover seiner Schuluniform ist zerschlissen, an den Ellbogen klaffen Löcher. Fidels Familie hat die Schulgebühren für Januar nicht bezahlt, der Junge ist trotzdem zur Schule gekommen, um sein Glück zu versuchen. Mit einem Winken holt der Schuldirektor Lehrer Sixths Gwero zu sich und weist ihn an, Fidels Mutter einen Besuch abzustatten.
Nach zehn Minuten Fußweg durch den Slum Kibera trifft Gwero auf Irene Odhiambo, die gerade Wäsche aufhängt. Sie hat während der Pandemie ihren Job in einem Restaurant verloren. »Niemand will uns Leute aus Kibera anstellen, weil alle Angst vor Covid haben«, sagt sie.
Irene Odhiambo hat Schulden bei der Schule ihres Sohnes: »Niemand will uns Leute aus Kibera anstellen, weil alle Angst vor Covid haben«, sagt sie
Foto: Zakaria Ahmed / DER SPIEGEL
Bei der Schule habe sie inzwischen mehr als 100 Euro Schulden – in dieser Gegend ein kleines Vermögen. Lehrer Gwero nimmt ihren Sohn trotzdem mit zurück an die Schule. »Was soll man machen?«, fragt er resigniert. »Wir können ja froh sein, wenn in den nächsten Tagen möglichst viele Schüler zurückkommen.«
Die geschlossenen Schulen haben die extremen sozialen Unterschiede in Kenia weiter verschärft. Die Mittel- und Oberschicht aus den grünen Vororten engagierte Privatlehrer für ihre Kinder und Vollzeit-Nannys stellten sicher, dass die Einwahl für den Onlineunterricht klappte. Jene wohlhabenden Eltern waren es auch, die im März aus Sorge vor Corona-Infektionen auf eine Schließung der Schulen drängten. Die Kinder aus den ärmeren Vierteln blieben auf sich gestellt.
Zuleika Yusuf weiß, dass viele Schülerinnen in Kibera nicht zurückkommen werden. Sie betreut mit ihrer Organisation Woman Beyond Borders Schulmädchen, die ungewollt schwanger geworden sind. »Seit März sind die Zahlen hier explodiert. Ich begleite fünf Mädchen im Alter zwischen 14 und 18, die im Shutdown ein Kind bekommen haben.«
Woman Beyond Borders und andere Organisationen vor Ort gehen von einer Zunahme der Teenager-Schwangerschaften seit Beginn des harten Shutdowns um bis zu 40 Prozent aus. Da zahlreiche Beratungsstellen zunächst geschlossen wurden, fehlte es vielerorts an Aufklärung über Verhütung und Familienplanung. Auch die Zahl sexueller Übergriffe habe zugenommen, erzählt Yusuf aus ihrer Erfahrung der vergangenen Monate.
Die Sozialarbeiterin ist selbst mit 16 Jahren Mutter geworden, erlitt mehrfach sexuelle Gewalt. Nun will sie andere Mädchen vor diesem Schicksal bewahren. Keine leichte Aufgabe in einer Zeit, in der Schulen über Monate geschlossen blieben. Für viele Mädchen waren sie zuvor ein sicherer Rückzugsort vor sexuellen Aggressionen und instabilen familiären Verhältnissen. »Wir haben viele verloren«, sagt sie.
Sozialarbeiterin Zuleika Yusuf mit Stacey: Schätzungen zufolge sind die Teenager-Schwangerschaften seit Beginn des Shutdowns um bis zu 40 Prozent gestiegen
Foto: Zakaria Ahmed / DER SPIEGEL
Yusuf streift sich die Schuhe ab und schiebt den gelben Vorhang am Eingang einer Hütte beiseite. Drinnen ist gerade Platz für ein Sofa und ein kleines Bett. Darauf sitzt Stacey, sie ist kürzlich 18 geworden. In drei Monaten wollte sie ihre Highschool-Prüfung ablegen, danach Jura studieren. Sie war eine der Klassenbesten, vor dem Shutdown. Jetzt ist sie im neunten Monat schwanger. »Ich bin ganz ehrlich. Als die Schulen zugemacht haben, gab es nichts mehr zu tun. Also habe ich mich mit einem Jungen getroffen. Dann ist es passiert. Irgendwann ist meine Periode ausgeblieben.«
Sozialarbeiterin Yusuf nickt verständnisvoll. »Das war vielleicht ein kleiner Fehler, aber definitiv nicht das Ende.« Stacey lächelt etwas gezwungen. Es sei hart für sie, all ihre Freunde wieder in die Schule gehen zu sehen. Die Abschlussprüfung möchte sie trotzdem versuchen, jeden Tag lernt sie zu Hause auf einem geliehenen Smartphone. Immerhin: Der Vater des Kindes will sie dabei unterstützen.
Zuleika Yusuf sagt, dass viele Schulen ihre Schülerinnen während des Shutdowns komplett im Stich gelassen hätten
Foto: Zakaria Ahmed / DER SPIEGEL
Zuleika Yusuf gibt noch ein paar praktische Tipps für die ersten Wochen mit dem Baby, zieht währenddessen bereits ihre Schuhe wieder an. Sie muss dringend noch mit ihrer nächsten Klientin telefonieren – einer 16-Jährigen, die gerade entbunden hat. Von vielen Schulen ist Yusuf schwer enttäuscht: »Sie haben die Schülerinnen während des Shutdowns komplett im Stich gelassen.«
Nicht so die Kibera Girls Soccer Academy, eine Mädchenschule im muslimisch geprägten Teil des Slums. »Zuerst haben wir es mit Onlineunterricht versucht«, sagt Direktorin Claris Akinyi. »Doch das hat überhaupt nicht funktioniert. Kaum jemand hatte dafür die nötige Ausstattung. Also haben wir uns etwas anderes ausgedacht.«
Kibera Girls Soccer Academy: Fast alle Mädchen sind zurückgekommen
Foto: Zakaria Ahmed / DER SPIEGEL
An drei Tagen pro Woche durften sich die Schülerinnen in kleinen Gruppen auf dem Schulgelände treffen. Statt Mathe übten sie während des Shutdowns Nähen, Schauspiel und Informatik. Es hat funktioniert, fast alle sind gekommen. »So konnten wir die Mädchen zumindest weiter betreuen und auf sie Acht geben«, erzählt Schulleiterin Akinyi.
Der Erfolg zeigt sich nun am ersten Schultag: Die Klassenzimmer der Kibera Girls Soccer Academy sind voll, insgesamt nur 13 Schülerinnen bislang nicht zurückgekehrt. Das Lehrerteam hat alle abtelefoniert, die meisten wollen in den nächsten Tagen nachkommen. Doch es sei auch zu zwei Schwangerschaften gekommen, erzählt die Direktorin. Für zehn Monate harten Shutdown keine schlechte Bilanz, findet sie. Und hat einen Tipp für Bildungspolitiker weltweit: »Achtet auf die sozial Schwächsten.«
Mitarbeit: Asha Jaffar
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
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Stacey, 18, war eine der Klassenbesten und wollte Jura studieren – vor dem Shutdown. Jetzt ist sie im neunten Monat schwanger. »Als die Schulen zugemacht haben, gab es nichts mehr zu tun«, sagt sie. »Also habe ich mich mit einem Jungen getroffen«
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Erster Schultag in der Redrose School Nairobi, Kenia. Viele Familien aus dem angrenzenden Slum Kibera schicken ihre Kinder hierher, die Privatschule ist weitaus besser als die heillos überfüllten staatlichen Schulen
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Fidel Odhiambo und Schuldirektor Mark Barassa
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Irene Odhiambo hat Schulden bei der Schule ihres Sohnes: »Niemand will uns Leute aus Kibera anstellen, weil alle Angst vor Covid haben«, sagt sie
Foto: Zakaria Ahmed / DER SPIEGEL
Sozialarbeiterin Zuleika Yusuf mit Stacey: Schätzungen zufolge sind die Teenager-Schwangerschaften seit Beginn des Shutdowns um bis zu 40 Prozent gestiegen
Foto: Zakaria Ahmed / DER SPIEGEL
Zuleika Yusuf sagt, dass viele Schulen ihre Schülerinnen während des Shutdowns komplett im Stich gelassen hätten
Foto: Zakaria Ahmed / DER SPIEGEL
Kibera Girls Soccer Academy: Fast alle Mädchen sind zurückgekommen