Kolumbien Guerilla-Geisel Betancourt nach sechs Jahren frei

Erlösung aus Geiselmartyrium im Dschungel: Ingrid Betancourt ist nicht mehr in der Gewalt der Farc-Rebellen. Gemeinsam mit 14 weiteren Geiseln wurde sie durch einen spektakulären Trick des Militärs befreit. Die Freiheit komme "völlig überraschend", sagte Betancourt in einem ersten Interview.

Bogota - Mit einer trickreichen Militäraktion ist die frühere kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt aus ihrer Geiselhaft befreit worden. Fast sechseinhalb Jahre hielten linke Farc-Rebellen die 46-Jährige in ihrer Gewalt - das kolumbianische Militär hat Betancourt nach eigenen Angaben in Sicherheit gebracht und vorläufig auf einem Stützpunkt nahe der Hauptstadt Bogota einquartiert.

Wie listig die Armee bei der spektakulären Befreiungsaktion vorging, lassen die Beschreibungen der Regierung erahnen: Der kolumbianische Verteidigungsminister Juan Manuel Santos sagte, der Armee sei es gelungen, eigene Leute in den "obersten Zirkel" der Farc einzuschleusen. Da die Geiseln zunächst in drei Gruppen aufgeteilt worden seien, hätten die Undercover-Leute mit einem gefälschten Befehl von Farc-Chef Alfonso Cano bewirkt, dass die Geiseln wieder zusammengeführt wurden.

Die eingeschleusten Agenten machten den Rebellen zudem glaubhaft, Cano habe den Transport der Geiseln in den Süden des Landes angeordnet. Daraufhin wurden die Gefangenen laut Santos in einen Hubschrauber verfrachtet, der in Wirklichkeit der Armee gehörte und in dem sich kolumbianische Geheimdienstagenten befanden. Am Zielort wurden die Geiseln demnach befreit.

Betancourt weint beim Interview

In einem ersten Interview beschrieb Betancourt ihre Befreiung aus ihrer Sicht: Einem Militärradiosender sagte die 46-Jährige, sie und die anderen 14 Geiseln seien "völlig überrascht" worden. Zunächst sei ein weißer Hubschrauber offenbar mit Farc-Rebellen an Bord gelandet. Statt wie sonst fliehen zu müssen, seien die Geiseln jedoch von ihren Bewachern zu der Maschine geführt worden. Dort seien sie von der Hubschrauberbesatzung an Händen und Füßen gefesselt und an Bord gebracht worden. Offenbar hätten auch ihre Bewacher die Männer an Bord des Hubschraubers für Rebellen gehalten.

Erst als die Maschine in der Luft war, hätten sich die vorgeblichen Rebellen als Mitglieder der Streitkräfte zu erkennen gegeben. Von einer Sekunde auf die andere wurde den Geiseln klar, dass ihr jahrelanges Martyrium zu Ende war. "Dies ist ein Augenblick des Friedens für Kolumbien. Ich danke Präsident Alvaro Uribe", sagte Betancourt mit tränenerstickter Stimme.

Insgesamt wurden nach Angaben Santos' 15 Menschen aus der Gefangenschaft erlöst - neben Betancourt noch drei US-Amerikaner und elf weitere Geiseln. "Es wurde nicht ein Schuss abgegeben, und die Ex-Geiseln sind in guter Verfassung", sagte Verteidigungsminister Santos.

Außerdem seien zwei Rebellen, darunter der Chef der Geiselbewacher mit dem Kampfnamen "César", festgenommen worden. Für politische Beobachter in Bogota war es der bisher schwerste Schlag der Regierung des konservativen Präsidenten Uribe gegen die marxistische Rebellengruppe "Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens".

"Schönste Nachricht meines Lebens"

Der Sohn der früheren kolumbianischen Präsidentschaftskandidatin, Lorenzo Delloye-Betancourt, sagte unmittelbar nach der Erklärung der Regierung: "Das ist die schönste Nachricht, die ich je in meinem Leben bekommen habe." Delloye-Betancourt, der in Frankreich lebt, sagte dem Radiosender France-Info, er sei "überrascht und glücklich".

Seit Monaten liefen internationale Bemühungen um eine Freilassung der Geiseln. Zuletzt hatten Gerüchte über den schlechten Gesundheitszustand die Sorge über das Schicksal der Geisel verstärkt. Auf Bildern, die vor einigen Monaten veröffentlicht wurden, wirkte sie schwach und gebrochen. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hatte im April dieses Jahres in einer Fernsehansprache erklärt, für Betancourt bestehe unmittelbare Lebensgefahr. Das kolumbianische Militär erklärte, allen Geiseln gehe es den Umständen entsprechend gut.

Kouchner begleitet Familie nach Kolumbien

Sarkozy traf sich noch in der selben Nacht in Paris mit der Familie Betancourts. Die Angehörigen erklärten, sie wollten sofort nach Kolumbien zu ihrer Mutter fliegen. Gemeinsam mit Außenminister Bernard Kouchner würden sie gegen Mitternacht (MEZ) aufbrechen, hieß es. Frankreich habe alles für die Befreiung seiner Mutter getan. Betancourts Familie hatte stets einen Verzicht auf eine militärische Befreiungsaktion gefordert.

Betancourt hat auch die französische Staatsbürgerschaft, das Ende ihrer Geiselhaft war die Hauptnachricht der französischen Medien. Die französische Regierungspartei UMP erklärte: "Das ist ein weiterer Beweis, dass man sich niemals dem Fatalismus hingeben darf. Ein weiterer Beweis, dass der Wille zum Handeln sich immer auszahlt."

Weltweite Erleichterung

Auch Papst Benedikt meldete zu Wort: Sprecher Federico Lombardi sagte, der Vatikan sei erleichtert über die Rettung der Geiseln. Der Papst hoffe, die Befreiung sei der Start eines Friedensprozesses für Kolumbien. Benedikt XVI. hatte Betancourts Mutter im Februar dieses Jahres im Vatikan empfangen.

Auch die spanische Regierung schickte Freudebekundungen nach Kolumbien. Die Politikerin sei das Symbol aller Verschleppten in dem südamerikanischen Land, hieß es aus Madrid. Deshalb sei die Freude über ihre Befreiung besonders groß, schrieb Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero in Glückwunsch- Telegrammen an die Familie Betancourts und an Alvaro Uribe. Spanien hatte sich zusammen mit Frankreich und der Schweiz an der Aushandlung einer Freilassung Betancourts beteiligt. Boliviens Präsident Evo Morales erklärte in La Paz, die Befreiung sei "enorm wichtig für die Suche nach dem Frieden".

US-Präsident George W. Bush rief seinen kolumbianischen Kollegen Uribe an, um ihm zu gratulieren. In Bogotá versammelten sich aus Freude über Betancourts Freiheit Hunderte Menschen auf den Straßen. Sie hielten kolumbianische Flaggen hoch und riefen: "Frei, frei, frei!" Im Zentrum der kolumbianischen Hauptstadt bildete sich ein Autokorso aus Tausenden Wagen, die laut hupten. An vielen Gebäuden wurden die Nationalflaggen gehisst. Auch in Medellín und in Cali kam es laut Medienberichten zu spontanen Freudendemonstrationen.

Die Farc hatte Betancourt im Februar 2002 entführt. Sie befand sich damals mitten im Wahlkampf. Seitdem wurde sie im Dschungel versteckt gehalten. Zuletzt verlangten die Rebellen im Austausch für 39 Geiseln einschließlich Betancourts von der kolumbianischen Regierung die Freilassung von 500 ihrer Guerilleros. Nach kolumbianischen Angaben hält die Farc etwa 700 Geiseln in ihrer Gewalt.

Vermittlungsversuche in Lateinamerika

Anfang Juni hatte Venezuelas Präsident Hugo Chavez den neuen Anführer der Farc, Alonso Cano, zur Freilassung aller Geiseln aufgefordert. Dies könne ein erster Schritt zur Beendigung des jahrzehntelangen innerkolumbianischen Konflikts sein, hatte er erklärt.

Zu Jahresbeginn ließ die Farc auf Vermittlung von Chavez bereits mehrere Geiseln frei, die sie zum Teil seit Jahren im Dschungel gefangen gehalten hatte. Dutzende weitere waren aber noch in der Hand der Rebellen, darunter Betancourt. Ende Mai hatte die Farc mitgeteilt, ihr Gründer und Anführer Manuel Marulanda sei Ende März einem Herzinfarkt erlegen. Neuer Chef wurde Cano. Politische Beobachter waren davon ausgegangen, dass er an Verhandlungen mit den Regierungen und langfristig an Frieden eher interessiert ist als Marulanda.

Farc-Bewegung in der Krise

Die Farc finanziert sich vor allem durch den Kokainhandel und Entführungen. Zuletzt mussten sie aber empfindliche Verluste hinnehmen. Die Farc, die den Staat schon seit mehr als 40 Jahren bekämpfen, hatten im März schon ihren Gründer Manuel Marulanda verloren. Er sei an einem Herzinfarkt gestorben. Bereits am 1. März war Marulandas informeller Stellvertreter Raúl Reyes bei einem kolumbianischen Angriff auf sein Lager in Ecuador getötet worden. Die Zahl der Farc-Guerilleros soll von früher 18.000 Frauen und Männern unter Waffen auf inzwischen unter 10.000 gefallen sein. Uribe hatte die Streitkräfte mit Milliardenhilfe der USA kontinuierlich aufgerüstet.

Damit haben die Farc kaum noch Geiseln von politischer Bedeutung, die sie wie gefordert gegen die 500 inhaftierten Guerilleros eintauschen könnten. Auch ihre Forderung nach einer demilitarisierten Zone im Süden des Landes für Verhandlungen über den Austausch von Geiseln gegen Häftlinge dürfte weiter an Kraft verloren haben.

amz/AP/AFP/Reuters/dpa

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