NSA-Überwachungsaffäre Ein Fall für zwei

Bundeskanzlerin Merkel mit Innenminister Friedrich: Die Regierung muss die Bürger schützen
Foto: Wolfgang Kumm/ picture alliance / dpaHans-Peter Friedrich versteht als Innenminister etwas von Geheimdiensten. Er ist nicht nur zuständig für den Verfassungsschutz, sondern auch für den Schutz der Verfassung. Man hat vom Verfassungsminister in diesen Tagen nicht viel gehört zu der Affäre um die allumfassenden Spionagebestrebungen der amerikanischen National Security Agency (NSA), die die Welt seit kurzem beunruhigen. Dabei bedroht sie längst die Verfassung.
Man hat auch von Kanzlerin Angela Merkel nicht viel dazu gehört, nicht an diesem Wochenende, an dem der SPIEGEL öffentlichgemacht hat, dass die NSA jeden Monat rund eine halbe Milliarde Verbindungsdaten in Deutschland speichert und auswertet. Und als der amerikanische Präsident Barack Obama vor kurzem in Berlin war, hat die Kanzlerin ein paar höfliche Fragen gestellt. Das war's.
Es hat lange gedauert, bis die Dimension dessen, was der Whistleblower Edward Snowden enthüllt hat, in der deutschen Politik angekommen ist. Dabei hat Snowden selbst den entscheidenden Satz schon vor drei Wochen gesagt. Jeder Analyst der NSA könne "jeden als Ziel ins Visier nehmen, jederzeit", sogar einen amerikanischen Bundesrichter oder den US-Präsidenten. Er brauche nur dessen E-Mail-Adresse. Dank Snowden weiß die Republik, dass dies millionenfach passiert, auch in Deutschland.
Öffentlich rechtfertigt die amerikanische Regierung ihre Überwachungsmatrix gerne mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Gegen Osama Bin Laden und seine Nachfahren, das ist die Logik dieser Rhetorik, müsse vieles erlaubt sein, es diene doch dem Schutz des Westens insgesamt. "Man kann nicht 100 Prozent Sicherheit und 100 Prozent Privatsphäre und null Unannehmlichkeiten haben", sagte Obama.
Amerikanische Mega-Lauschbehörde
Seit Snowden einen Blick in die Innereien der NSA ermöglicht, ist offenkundig, dass dies bestenfalls ein (kleiner) Teil der Wahrheit ist. Die nun belegte Überwachung der Europäischen Union oder eines Gipfeltreffens der wichtigsten Nationen der Welt hat mit Terrorbekämpfung nichts zu tun. Jean Asselborn, José Manuel Barroso und Martin Schulz sind keine gefährlichen Politiker (es sei denn, man ist Anhänger der D-Mark).
Der Anspruch der amerikanischen Mega-Lauschbehörde trägt vielmehr totalitäre Züge. In einer internen Präsentation, die der SPIEGEL einsehen konnte, wird die Vision der "Information Superiority" definiert: eine weltweite Vorherrschaft über Informationen. Diese Vision wurde bereits vor einigen Jahren entworfen, man darf annehmen, dass die USA ihr seitdem einen beträchtlichen Schritt nähergekommen sind.
Freimütig definiert die NSA Deutschland als Partner und Gegner zugleich, als sogenannten Partner dritter Klasse. "Wir können die Signale der meisten ausländischen Partner dritter Klasse angreifen - und tun dies auch", heißt es in einem Dokument, das der SPIEGEL einsehen konnte. Der totalitäre Informationsanspruch der NSA betrifft nicht nur Staaten und Behörden, er betrifft nicht nur Wirtschaftsunternehmen. Er betrifft uns alle. Er betrifft selbst jene, die glauben, gar nichts zu verbergen zu haben.
Das kann ein Rechtsstaat nicht hinnehmen. Wir alle können das nicht hinnehmen.
Es lohnt sich in diesen Tagen, das Grundgesetz in die Hand zu nehmen und Artikel 10 zu studieren. "Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich", heißt es dort. Schon der Gesetzgeber hat der Privatsphäre im Kommunikativen einen hohen Rang eingeräumt. Das ist etwas, was Amerikaner verstehen. Die Zusatzartikel ihrer Verfassung, wie der Erste, der unter anderem die Presse- und Meinungsfreiheit garantiert, gelten als höchste Rechtsgüter.
Kanzlerin muss die Meinungsfreiheit schützen
Diese zu schützen, ist die Aufgabe, die der Kanzlerin nun zukommt. Die Kanzlerin hätte dafür einen Hebel, sie verhandelt derzeit mit der amerikanischen Regierung über den Abschluss eines Freihandelsabkommens. Sie könnte Obama signalisieren, dass der Abschluss unter dem Vorbehalt steht, die Praktiken der NSA aufzuklären und zu stoppen.
Merkel, Friedrich und der Rest der Bundesregierung sind nicht dafür gewählt worden, dass sie verschämt schweigen, wenn es um Kritik an Amerika geht. Sie haben das politische Mandat, das Schutzbedürfnis der Bevölkerung und die Souveränität dieses Landes zu wahren. Wenn sie bei dieser Aufgabe versagen, haben sie im September ihre Abwahl verdient.
Was weiß der BND?
Womöglich liegt dem Schweigen der Bundesregierung etwas anderes zugrunde. Womöglich wissen die deutschen Behörden mehr, als ihnen nun lieb ist. Kaum vorstellbar, dass die NSA ohne Einbindung des deutschen Bundesnachrichtendienstes gehandelt hat; hartnäckig halten sich die Gerüchte, dass die Amerikaner zumindest einen Teil ihres Überwachungsprogramms auf deutschem Boden präzise abgesprochen haben. Eine solche Kooperation würde zumindest erklären, wie rund eine halbe Milliarde Kommunikationsverbindungsdaten aus Deutschland in das NSA-interne System "Boundless Informant" einfließen können. Bislang hat der Bundesnachrichtendienst auf SPIEGEL-Anfragen vehement dementiert, solche "Rohdaten" zu liefern.
Es ist an der Zeit, die Aufklärung in unabhängige Hände zu legen, als Fall für zwei. Auf europäischer Ebene ist dies ein internationaler Untersuchungsausschuss, der europaweit aufzuklären hat, was die NSA auf dem Territorium der EU und gegen die EU selbst unternommen hat; unter Einbindung der Frage, in welchem Ausmaß die jeweiligen nationalen Geheimdienste kollaborieren. Es wäre zugleich ein Prüfstein, wo dieses Europa in seiner Innen- und Rechtspolitik wirklich steht; wie selten ein Fall zuvor ist dieser Skandal ein transnationaler, bei dem nationale Grenzen und Gesetze nur sehr eingeschränkt tauglich sind.
In Deutschland ist dies die Justiz in Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hat schon einmal, als es das deutsche Gesetz über die Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärte, bewiesen, dass es ein feines Gespür für die Balance aus Sicherheit und Freiheit besitzt.
Um genau diese Daten, für deren Speicherung in Deutschland seit der Entscheidung der Karlsruher Richter im März 2010 keine Rechtsgrundlage mehr vorliegt, geht es der NSA. Sollte der BND die Wahrheit sagen und die Spionageaktivitäten der USA nicht abgestimmt gewesen sein, wäre die Bundesanwaltschaft wie für alle nicht genehmigten Aktivitäten eines fremden Geheimdienstes zuständig. Man stelle sich einen Augenblick vor, der russische oder chinesische Nachrichtendienst würde jeden Monat Millionen an Daten in Deutschland absaugen. Ganze Hundertschaften an Ermittlern würden die Spione jagen, es wäre, zu Recht, ein Skandal erster Güte.
Der NSA geht es um "Information Superiority", der Vorherrschaft über die Informationen. Dem Rechtsstaat muss es jetzt um "Information Sovereignty" gehen, der Wiedererlangung seiner Souveränität und des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Die Enthüllungen von Edward Snowden sind dazu ein erster Schritt, sie liegen im öffentlichen Interesse. Snowden hat in seinem Video einen Satz gesagt, es ist eine der zentralen Begründungen, warum er zum Whistleblower wurde: "Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich tue und sage, aufgezeichnet wird."