
Ukrainische Krankenschwestern: Die Schneeengel
Krankenschwestern in der Ukraine Engel am Boden
Schwester Olha Roman geht unbeirrbar ihren Weg. Seit einem halben Jahrhundert steigt sie fast täglich die Betonstufen von Wohnblocks empor. Läuft im Winter mit festem Schritt über ungeräumte Gehwege, fährt in zerbeulten Kleinbussen zu ihren Klienten.
Vielleicht steht bald ihr letzter Gang als Mitarbeiterin der Sozialstation des Roten Kreuzes an. Nicht, weil es für Schwester Olha Roman mit 75 Jahren langsam an der Zeit wäre, in den Ruhestand zu gehen. "Ich würde weiter zu meinen Alten gehen, solange mir der liebe Herrgott die Kraft dazu gibt. Noch tragen mich meine Füße gut", sagt sie.
Die Gründe sind im fernen Kiew zu suchen. Dort wurden Umstrukturierungen beschlossen, die dieses Mal kranke, alte Menschen treffen. Seit Anfang der Sechzigerjahre gibt es die Sozialstation des Roten Kreuzes in Lviv. Und seitdem ist Olha Roman dabei. Die Schwestern des Ukrainischen Roten Kreuzes genießen im ganzen Land das Ansehen der Bevölkerung, gelten seit Sowjetzeiten als Aushängeschild der humanitären Hilfsorganisation. Manche sehen in ihnen lebende Legenden: aufopferungsvoll und unbestechlich.

Krankenschwester Roman
Foto: Till MayerVor allem Letzteres ein unschätzbarer Wert: Das ukrainische Gesundheitssystem besitzt keine funktionierende allgemeine Krankenversicherung, dafür aber kärglich bezahltes Personal.
Mitte Dezember stellte das Gesundheitsministerium nun auch diese überschaubaren Zahlungen für die Rotkreuz-Sozialstationen ein. Ein Schock für die 3050 Mitarbeiterinnen, die oft wie Olha Roman seit Jahrzehnten zum Mindestlohn ihren Dienst versahen - und nun entlassen werden mussten. Ein Schock ganz besonders für die alten Menschen, die die Schwestern zuvor regelmäßig besucht haben. Ihre Aufgaben übernehmen nun Mitarbeiterinnen der Polikliniken. So lautet zumindest die Theorie der Umstrukturierung.
Und die Realität? Hanna Wolska strahlt, als sie Olha Roman die Türe öffnet. Auch wenn es dauert. Die 82-Jährige leidet unter einer Lähmung. Jeder Schritt kostet Zeit und Kraft. "Was würde ich nur ohne sie machen", sagt sie und deutet auf die Krankenschwester. Dann quält sie sich am Stock in winzigen Schritten zum Bett. Olha Roman bereitet derweil schon die Spritze auf dem kleinen Wohnzimmertisch vor. Der Fall von Hanna Wolska ist einer der Gründe, warum Olha Roman ihren unbezahlten Dienst vorerst weiter versieht: "Wie soll sie denn mit ihrer Lähmung und dem Rheuma zu einer Poliklinik gehen? Und ein Taxi kann sie sich nicht leisten."

Ukrainische Krankenschwestern: Die Schneeengel
Vorgesehen ist, dass auf Anruf oder Arztverschreibung eine Schwester von der Poliklinik kommt. "Als ich dort angerufen habe, wurde ich oft auf den nächsten Tag vertröstet. Aber ich brauch doch meine Spritze. Das Rheuma schmerzt so schon genug." Zum Glück hat die alte Dame hilfsbereite Nachbarn, und auch von der Kirchengemeinde gibt es immer wieder Besuch. Doch Spritzen setzen können diese Menschen nicht. "Eine Zeitlang haben meine Kolleginnen und ich ohne Bezahlung den Dienst aufrecht erhalten", sagt die 75-jährige Roman. Hieß es doch kurzzeitig, dass nun das Sozialministerium für die Gehälter der Schwestern aufkommen will. Diese Hoffnung ist vorerst dahin.
Spareinschnitte in einem ohnehin schon weitmaschigen sozialen Netz sind die Ukrainer seit Jahren gewohnt. Der Konflikt und die völlig desolate Wirtschaftslage des Landes führten und führen zu immer neuen Kürzungen. Oft trifft es die, die kaum etwas haben, ob jung oder alt: Studenten werden die mickrigen staatlichen Stipendien gekürzt, hilfsbedürftige Rentner müssen plötzlich auf ihren gewohnten Schwesternbesuch verzichten.

Schwester Roman bei einer Patientin
Foto: Till MayerIn Lviv haben sich die jüngeren Schwestern neue Jobs gesucht, einige kamen in den Polikliniken unter. Andere, die eigentlich schon im Pensionsalter sind, konnten es sich leisten, noch eine Zeit lang ehrenamtlich Dienst zu leisten. Aber sie sind bei kärglichen Renten um die 50 Euro auf einen Zweitjob angewiesen. Anfang Januar stellte die Sozialstation ihren Dienst ein. Auch die von Olha Roman. Doch wie viele andere Schwestern telefonierte sie zumindest noch regelmäßig mit den alten Menschen. Als die Klagen nicht abnahmen, griff Olha Roman wieder zu ihrer alten schwarzen Tasche, holte sich im Medico-Sozialen-Zentrum des Roten Kreuzes die Medikamente für ihre Schützlinge ab und marschierte los. Wenigstens eine Zeitlang will sie den Service noch aufrechterhalten.
"Wir haben so viel Unterstützung aus Deutschland bekommen"
Und es gibt ein klein wenig Hoffnung. "Im Krisengebiet im Osten des Landes ermöglicht das Internationale Rote Kreuz weiterhin den Dienst der Rotkreuz-Schwestern. Manche Kommunen fördern ebenfalls die Sozialstationen", erklärt Valentyn Mojsejenko, Präsident der Rotkreuz-Gebietsorganisation Lviv. Er hofft auf ein Umdenken in der Politik und im Fall Lviv auf Unterstützung aus Deutschland.
Der DRK-Landesverband Badisches Rotes Kreuz ist seit 20 Jahren Partner der Ukrainer. Die Badener finanzieren mit Spendengeldern das Medico-Soziale Zentrum in Lviv, eine Anlaufstelle für alleinstehende Seniorinnen und Senioren sowie KZ- und Gulagüberlebende, weiter die Verteilung von kostenlosen Medikamenten an Rentner in Not. Letzteres hatten SPIEGEL-ONLINE-Leser ermöglicht, die nach einem Artikel große Spendenbereitschaft bewiesen. Seit 2011 konnte so Leid gelindert und Leben gerettet werden.

Verarmte Rentnerin in der Ukraine
Foto: Till Mayer"Der Medikamenten-Fonds war so wichtig für unsere Schwestern. Sie mussten nicht mit leeren Händen zu ihren Klienten", sagt Irina Walko, ehemalige Leiterin der Sozialstation. Jetzt sorgt sie dafür, dass zumindest die Medikamente weiter übergeben werden können. "Wenn unsere Sozialstation wirklich endgültig die Arbeit einstellt, würde es mich unglaublich schmerzen. Wir haben so viel Unterstützung aus Deutschland bekommen. Die Schwestern erhielten Winterstiefel und eine eigene Dienstkleidung dank deutscher Spenden. Das war eine wichtige Anerkennung. Wir konnten eine Waschmaschine anschaffen, um Bettzeug unserer Klienten zu waschen."
Die Rotkreuz-Mitarbeiterin hat einen Notfallplan aufgestellt. Rund 11.000 Euro Personalkosten im Jahr würde ein sechsköpfiges Rumpfteam kosten. "Wir könnten dann wenigsten die schlimmsten Fälle in bewährter Weise weiter besuchen", erklärt sie. Wenn das klappt, würde für Olha Roman ein Traum in Erfüllung gehen. Die alte Dame wird sich bald einen Nebenjob suchen müssen, um ihre Rente aufzubessern. Doch sie sagt auch: "Was würde ich geben, wenn ich weiter für meine Alten da sein könnte."
Seit einem Buch- und Ausstellungsprojekt über KZ-Überlebende berichtet Till Mayer immer wieder für SPIEGEL ONLINE aus der westukrainischen Stadt Lviv und über ihre Menschen. Ehrenamtlich engagiert er sich dabei für Rentner in Not. Durch Unterstützung von SPIEGEL-ONLINE-Lesern wurde ein Hilfsprojekt ins Leben gerufen, das die Verteilung von kostenlosen Medikamenten, Lebensmitteln und den Unterhalt eines Medico-Sozialen Zentrums des Roten Kreuzes ermöglicht.
Homepage von Till Mayer
Für Spenden: Spendenkonto DRK-Landesverband Badisches Rotes Kreuz;
Sparkasse Freiburg Nördlicher Breisgau
IBAN: DE50 6805 0101 0013 0894 89;
SWIFT-BIC FRSPDE66XXX
Stichwort: Ukraine