
Flüchtlingslager in Goma: Manche können nur kriechen
Kriegsopfer im Kongo "Ich bin ein ganzer Mensch, nicht nur ein halber"
Mashali Kahombo versucht wütend zu sein. Es will dem alten Mann aus dem Kongo einfach nicht gelingen. Dabei sollte es doch denkbar einfach sein, denjenigen zu hassen, der damals die Bombe warf. Oder besser diejenigen, die dafür verantwortlich sind. Dafür, dass fast seine ganze Familie starb, fünf Menschen. Nur eine Tochter überlebte. Ihm riss es bei der Explosion das halbe linke Bein weg, als würde jemand einen Grashalm aus dem Boden reißen. Die Bombe fiel im Jahr 2008. Dass er nicht verblutete, grenzt an ein Wunder. Statt Wut empfindet der 60-Jährige nur Trauer.
Kahombo kehrte nach der Amputation auf Krücken in sein Dorf zurück. Ein paar Hütten nur. So unbedeutend, dass es nicht einmal auf einer Landkarte der kongolesischen Unruheprovinz Nord-Kivu zu finden ist. Zwei Jahre später flieht er mit seiner Tochter vor neuen Kämpfen. Seitdem lebt er im Camp Lac Vert. Zusammen mit 22.500 anderen, die sich in Sicherheit brachten und jetzt in erbärmlichen Hütten hausen. Gebogene Zweige mit weißen Plastikplanen darüber. Sie halten den Regen ab, mehr nicht. Hütte reiht sich an Hütte. Jede knapp zweieinhalb mal zwei Meter groß. Mehrköpfige Familien leben darin. Nachts liegen die Bewohner nebeneinander wie Sardinen in der Büchse.

Kahombo balanciert mit seinen Krücken über Vulkangestein. Große, schwarze, porige Brocken schichten sich auf. 2002 brach der Vulkan aus, jetzt bildet die erstarrte Lava ein Geröllfeld. Die wackeligen Steine sind scharf und spitz. "Wie Messerklingen. Wenn ich da stürze, ist schnell die ganz Haut aufgerissen. Glauben sie mir, das tut weh", sagt der alte Mann.
Ihm kommt Jeanette Lubira entgegen. Um es korrekt zu beschreiben: Sie kriecht auf dem Boden, zieht sich mit Händen und Armen vorwärts. Über all die spitzen Steine, von denen der alte Mann erzählt hat. Die leblosen Beine zieht sie hinter sich her. "Jeanette, wie geht es dir heute", ruft ihr der 60-Jährige zu. Die Frau blickt auf und lächelt: "Danke gut, mein Bester."
Es sind so viele, die ein Bein verloren haben
Den alten Mann schmerzt ihr Anblick. Er blickt kurz zu Boden, als müsste er sich schämen: "Dass ein Mensch so auf dem Boden kriechen muss. Es ist eine Schande." Es ist nicht viel, was sich Kahombo wünscht: Dass endlich Friede einkehrt und er in sein Dorf zurückkehren kann. Aufrecht, wie ein Mann. Nicht gebückt auf Krücken. Doch dafür bräuchte er eine Prothese, die er bisher von den Hilfsorganisationen vor Ort nicht bekommen hat. Kahombo vermutet als Grund seine Amputation über dem Knie, die ein aufwendiges Modell nötig machen würde. Und es sind so viele, die ein Bein verloren haben: weil eine Granate einschlug, eine Schusswunde nicht heilte oder sie auf eine Mine getreten sind. Zu viele, um alle zu versorgen.
Seit fast 30 Jahren steht Goma für das Elend von Menschen, die vor Krieg und Kämpfen fliehen. Mitte der Neunziger waren es Flüchtlinge, die aus dem benachbarten Ruanda kamen. Dann strömten die Inlandsvertriebenen hierher, die vor den Gefechten zwischen Milizen und Regierungstruppen, vor Mord und Massenvergewaltigungen flohen. Zurzeit sollen rund 200.000 Vertriebene in Goma Zuflucht gesucht haben.
Die M23, eine der stärksten Miliz-Fraktionen, scheint seit wenigen Monaten geschlagen. Doch Beobachter fürchten, dass bald andere Fraktionen ihren Platz übernehmen. Darunter Einheiten, denen sogar Kannibalismus vorgeworfen wird. Der Reichtum Kongos an Bodenschätzen verkommt mehr und mehr zum Fluch. Benachbarte Staaten wie Uganda und Ruanda sollen Milizen unterstützen, europäische Konzerne haben ebenso ihre Interessen. Politik hat Jeanette Lubira nie groß interessiert. Es ging immer um das Überleben. Bewaffnete, egal in welcher Uniform, brachten selten Gutes. Viele Frauen im Lager wurden von Kämpfern gezielt vergewaltigt.
"Ich bin ein ganzer Mensch, nicht nur ein halber"
Jeannette Lubira hat trotzdem nie aufgehört zu hoffen. Es sind kleine Träume, die sie sich zugesteht. Einen kleinen Stand eröffnen und Kuchen verkaufen. "Ich kann gut backen, lesen und rechnen. Was brauche ich mehr", sagt sie. Einen Rollstuhl natürlich, fügt sie schnell an. Dann würde es vielleicht wirklich mit dem Stand klappen. Auf jeden Fall müsste sie nicht mehr über den Boden kriechen. "So haben die Menschen doch höchsten Mitleid mit mir. Es schmerzt, wenn man unterschätzt wird. Ich bin ein ganzer Mensch, nicht nur ein halber."
Aurelie Viard seufzt. Sie ist Mitarbeiterin von Handicap International . "Stellen Sie sich vor, wenn die Frau auf eine der Latrinen muss", sagt die Helferin. Die Lagerlatrinen sind Verschläge mit einem stinkenden Loch im Boden.
Die Organisation, für die Viard arbeitet, unterstützt Menschen mit Behinderungen in Krisengebieten. In Goma startet sie in drei Flüchtlingslagern mit einem neuen Projekt. "Die Lage ist für Menschen mit Behinderungen besonders schlecht", sagt Aurelie Viard.
Handicap International finanziert sich aus Mitteln des Auswärtigen Amts und durch Spenden. Im Flüchtlingslager Muganga 3 wird gerade eine Holzhütte errichtet. Eine Rollstuhlfahrerin wirkt als Testerin für Türbreiten und Rampen mit. In Kürze arbeiten hier Physiotherapeuten. Sie sollen vor allem die Angehörigen trainieren. "Auch eine psychotherapeutische Hilfe wird es geben. Aufgrund der großen Anzahl an Bedürftigen können wir aber nur in Gruppensitzungen arbeiten", so die Handicap-International-Mitarbeiterin.
Spezialisten bilden gerade lokale Teams aus, die in den Camps arbeiten werden. "Wichtig ist es, Menschen mit Behinderung eine Stimme zu verschaffen, damit sie ihre Rechte einfordern. Ihnen eine Anlaufstelle zu geben. Es kann nicht sein, dass ein Gehbehinderter keine Nahrungsmittelration bekommt, weil er es nicht zum Verteilungs- und Registrierungspunkt schafft", erklärt sie. Und anders als Mashali Kahombo kann die junge Französin durchaus wütend werden.