
Krise in Ungarn: Frust macht Rechtsextreme stark
Krise in Ungarn Sonderweg in die Sackgasse
Budapest - Gerade noch war der ungarische Wirtschaftsminister György Matolcsy als selbstbewusster Kämpfer gegen das ausländische Finanzkapital und seine Handlanger aufgetreten. "Der Internationale Währungsfonds", schimpfte Matolcsy am 14. November im Budapester Parlament, "ist gegen jede unserer Maßnahmen, mit der wir die Menschen aus der Falle der Banken befreien." Die ungarische Regierungspolitik sei daher "nicht auf diese Drei-Buchstaben-Einrichtung IWF abgestimmt, sondern gegen sie", so Matolcsy.
Vier Tage später kam die Wende. Ungarn beantragte beim IWF und sicherheitshalber gleich noch bei der EU in Brüssel dringende Finanzhilfe. Im Eilverfahren wurden außerdem zum 1. Januar Steuern erhöht, unter anderem die Mehrwertsteuer. Denn das Land hat Schwierigkeiten, seine Schulden zu bedienen, ungarische Staatsanleihen finden derzeit nur noch zu Rekordzinsen Käufer.
Mit dem Hilferuf an den IWF und die EU wollte Ungarn auch einer weiteren Negativbewertung durch die Rating-Agenturen zuvorkommen. Genützt hat es nichts: Am Donnerstag stufte die Agentur Moody's Ungarns Staatspapiere auf Ramschniveau herab.
Kurz: Ungarn ist finanziell am Ende. Ohne Hilfe von außen droht in wenigen Monaten die Staatspleite, der Regierungschef Viktor Orbán hat das Land mit seinem rechtsnational-populistisch-antikapitalistischen Sonderweg in eine Sackgasse manövriert. Das meinen nicht mehr nur eingefleischte Orbán-Kritiker, sondern auch immer mehr regierungsfreundliche ungarische Experten. "Wir erleben gerade den Bankrott von Orbáns bisheriger Wirtschaftspolitik", kommentiert der Volkswirtschaftler Tamás Mellár Ungarns Hilferuf an den IWF und die EU. Mellár steht der Regierungspartei Bund Junger Demokraten (Fidesz) nahe und war von 1997 bis 2003 Chef des Ungarischen Statistikamts KSH. "Die Regierung hat keine Mittel mehr in der Hand, um die Wirtschaft zu beleben und Wachstum zu erzeugen", so der Ökonom.
Regierungspartei Fidesz laufen die Anhänger davon
Noch im Sommer 2010 hatte Ungarn den IWF trotzig aus dem Land geworfen, weil es Sparauflagen nicht erfüllen wollte. Stattdessen betrieb Orbán eine exotische Finanzpolitik: Um die Staatsschulden abzubauen, wurden ausländische Großunternehmen mit einer "Krisensteuer" belegt und private Rentenfonds verstaatlicht.
Zugleich versprach die Orbán-Regierung den Ungarn ein "Leben ohne Schuldenknechtschaft" und einen konsequenten Kampf gegen die Banken. Aus Rhetorik wurde Ernst: Im September verabschiedete das Parlament ein Gesetz, durch das mit Fremdwährungen verschuldete Ungarn ihre Kredite zu einem staatlich festgelegten, sehr niedrigen Wechselkurs zurückzahlen können. Etwa eine Million Magyaren sind von dem Problem der Fremdwährungskredite betroffen, der Verfall der Landeswährung Forint treibt ihre Schuldenraten ins Unbezahlbare. Doch ausgerechnet den Bedürftigen hilft die Regelung nicht: Nur wer sowieso gut bei Kasse ist, kann seine Schulden zurückzahlen, denn das muss auf einen Schlag geschehen.
Den Banken drohen durch das Gesetz bis zu einer halben Milliarde Euro Verluste. Acht ausländische Geldinstitute und die österreichische Regierung legten deshalb in Brüssel Beschwerde ein, die EU prüft nun ein Verfahren gegen Ungarn.
Kleine Parteien sind stark benachteiligt
Orbáns missglückter magyarischer Sonderweg wirkt sich nicht nur schlecht auf die Staatsfinanzen aus, sondern auch auf die Regierungspartei Fidesz selbst. Der laufen die Anhänger in Scharen davon, seit Sommer letzten Jahres hat sich die Zahl ihrer Wähler Umfragen zufolge halbiert. Wie Orbán und seine Partei dem Abwärtstrend entgegensteuern und Machterhalt betreiben, das nennt József Debreczeni, Ungarns prominentester Publizist, "autokratisch".
Dieser Tage beispielsweise wurde der Fidesz-Entwurf für ein neues Wahlgesetz öffentlich: Mit Regelungen wie Stimmenboni für Erstplatzierte in einzelnen Wahlkreisen ist es exakt so konzipiert, dass es einer großen Partei wie Fidesz im Parlament eine bequeme Mehrheit sichert, kleine Parteien hingegen sind stark benachteiligt.
So wie in diesem Fall haben Orbán und seine Partei den Staat mit Hunderten von Gesetzen genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Seit dem Zwei-Drittel-Wahlsieg im April letzten Jahres wurden im Zuge einer großangelegten Säuberung praktisch überall im Staats- und Öffentlichen Dienst unliebsame Personen entfernt und Fidesz-Getreue installiert. Im Januar tritt eine Verfassung in Kraft, die der Orbán-Partei auch für den Fall künftiger Wahlniederlagen noch erheblichen Einfluss sichert. "Das Orbán-Regime hat die institutionelle Ordnung der Gewaltenteilung im Eiltempo aufgelöst", sagt József Debreczeni, "in Ungarn wurde eine Willkürherrschaft errichtet."
Das Lager der Nicht-Wähler in Ungarn wächst
Eine Diagnose, die viele andere Beobachter teilen. Sie wiegt umso schwerer, als sich nur wenig demokratischer Widerstand gegen den Umbau des ungarischen Staats regt. Das Lager der Nicht-Wähler in Ungarn wird immer größer, die liberale und linke Opposition ist konturlos und tief zerstritten. Am ehesten manifestiert sich der Unmut gegen das Orbán-Regime noch auf der Straße: Nach einer Kundgebung gegen die restriktive Medienpolitik der Regierung Ende letzten Jahres vernetzten sich Aktivisten über Facebook zu einer Bürgerrechtsbewegung. "Wir wollen die Gesellschaft wachrütteln, das Demokratiedefizit in Ungarn aufzeigen und das Selbstbewusstsein der Wähler wiederbeleben", sagt Annamária Vámos, eine der Aktivistinnen. Die 38-Jährige ist Mitbegründerin der Initiative Zivile Kontrolle - Eine Million für Demokratie (EMD) und war Sprecherin einer Großdemonstration für Bürgerrechte am 15. März dieses Jahres, zu der immerhin 70.000 Menschen kamen - so viel wie zuletzt 1989/90, als die Diktatur endete.
Doch unstrittiger Gewinner der desolaten Lage in Ungarn ist jemand anders: die rechtsextreme Partei Jobbik (Die Besseren). Im Parlament mit zwölf Prozent der Sitze vertreten, kommt sie in Meinungsumfragen inzwischen auf knapp 20 Prozent der Stimmen und ist damit nach der Regierungspartei zweitstärkste politische Kraft in Ungarn. Der stellvertretende Jobbik-Fraktionschef Márton Gyöngyösi jubelt. "Die Leute durchschauen die Unglaubwürdigkeit der Regierungspolitik, und sie merken, dass allein wir ehrlich sind und Tabuthemen ansprechen. Deshalb werden wir immer stärker."
Rechtsextreme setzen auf "Tabuthemen"
Zu den "Tabuthemen" zählt der smarte 34-jährige Steuerexperte die "Lösung der Zigeunerfrage". Laut Jobbik-Ideologie gibt es eine "spezifische Zigeunerkriminalität", angeblich bestreiten viele der etwa 700.000 Roma in Ungarn ihren Lebensunterhalt durch Straftaten, und nur die Jobbik-Partei, so Gyöngyösi, wage es, darüber zu sprechen. Bis vor kurzem veranstaltete Jobbik gegen "Zigeunerkriminalität" regelmäßige Aufmärsche ihres paramilitärischen Arms, der "Ungarischen Nationalgarde". Seit einigen Monaten jedoch steht es unter Strafe, in Uniformen zu demonstrieren.
Nun setzen die Rechtsextremen erfolgreich auf andere Tabuthemen, vor allem Ungarns Schuldenprobleme oder, wie sie es nennen, die "Versklavung der ungarischen Nation durch das internationale Finanzkapital". "Die Panzer sind abgezogen, die Banken gekommen", lautet ein neuer Jobbik-Slogan, und gemeint ist natürlich, dass Ungarn statt von den Russen nun vom "Judenkapital" beherrscht wird.
Ähnliches schwang bisher auch immer in der Rhetorik des "Ministers für nationale Wirtschaft" mit, wie die Funktion von György Matolcsy ganz genau heißt. Seit der IWF wieder in Ungarn ist, tröstet Matolcsy seine Landsleute mit surrealen "Kopf hoch"-Zurufen. "Wir gehören zu den fähigsten Leuten der Welt", sagte Matolcsy bei einem Vortrag am vergangenen Wochenende in Budapest. Und das, so der Minister, stehe ja schon in alten persischen und byzantinischen Chroniken. In denen nämlich würden die urungarischen Stämme als herausragend in zwei Bereichen beschrieben - in der Gastronomie und der Hirnchirurgie.