Kunduz-Jahrestag Gefangen im Grauen der Nacht
Berlin - Es ist 1.49 Uhr Ortszeit am Morgen des 4. September 2009, als zwei F-15-Kampfjets zwei 500-Pfund-Bomben ausklinken. Wenige Minuten zuvor hat der deutsche im Feldlager im nordafghanischen Kunduz per Funk einen folgenschweren Befehl gegeben. Zwei von den entführte Tanklaster und die Menschen um sie herum sollen vernichtet werden.
Augenblicke später explodieren die lasergelenkten Raketen. Der Feuerball über der Sandbank im Kunduz-Fluss ist kilometerweit zu sehen.
Mission ausgeführt.
Was sich an diesem Septembermorgen vor fast genau einem Jahr ereignet hat, hat die Bundesrepublik Deutschland verändert. Seinerzeit war das Wort "Krieg" im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Einsatz noch ein politisches Tabu. Obwohl die Bundeswehr da schon acht Jahre im Land war. Nun aber hatte zum ersten Mal ein deutscher Oberst einen so massiven Angriff auf die Taliban befohlen. Ausgeführt wurde er ausgerechnet von US-Kampfjets, deren Bombardements deutsche Politiker stets als die falsche Strategie für bezeichnet haben.
Oberst Klein hat damals einen verheerenden Fehler begangen. Aber erst der politische Umgang damit brachte die Affäre Kunduz in Gang. Tagelang leugneten Bundeswehr und Bundesregierung die hohe Zahl getöteter Zivilisten, allen voran der damalige Verteidigungsminister . Während die Nato sich schon entschuldigte, sprach Jung ein quälendes Wochenende lang weiter von "einem erfolgreichen Einsatz der Bundeswehr gegen die Taliban". Nach der Bundestagswahl wechselte er ins Arbeitsministerium - und musste dann wegen der Affäre trotzdem zurücktreten.
Es war ein Jahr der unangenehmen Wahrheiten, vor allem für die Bundeswehr. Ein Untersuchungsausschuss wurde einberufen, Zeugen wurden befragt, geheime Akten gesichtet. Details sind zu Tage gekommen, die der Öffentlichkeit bisher verborgen waren. Über das geheim agierende Kommando Spezialkräfte (KSK) zum Beispiel oder über die Fahndungslisten der Nato in Afghanistan. Allerdings vernahm der Ausschuss fast alle interessanten Zeugen hinter verschlossenen Türen, auch Oberst Klein und den KSK-Kommandeur. Die Arbeit ist nicht zu Ende: Mehr als 40 Zeugen stehen noch auf der Liste des Ausschusses, darunter der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Beide werden noch einmal darüber Auskunft geben müssen, warum sie tagelang zu dem Angriff geschwiegen haben, obwohl Behörden und Geheimdienste ihnen sehr konkrete Hinweise auf die große Zahl von zivilen Toten lieferten. Das wird wohl vor allem für die Kanzlerin heikel.
Was aber ist aus den Akteuren der geworden? Wie geht es Oberst Klein heute, was berichten die Opfer des Bombardements? SPIEGEL ONLINE hat die Geschichten der Protagonisten rekonstruiert und analysiert die Folgen eines deutschen Verbrechens, das so schnell nicht vergessen sein wird:
Oberst Georg Klein

Bundeswehroberst Klein: Karriere vorbei
Foto: A3806 Can Merey/ dpaDer Name Georg Klein wird wohl für immer verbunden bleiben mit dem schwersten Bombardement, das ein deutscher Offizier seit dem Zweiten Weltkrieg befohlen hat. Kleins Foto prangte tagelang auf den Titelseiten der Zeitungen, nicht nur in Deutschland. Dass sein Gesicht jeder kennt und mit den Toten von Kunduz verbindet, ist wohl die schwerste Strafe für den Oberst.
Ein Jahr nach dem Angriff dürfte Klein, ein gläubiger Christ, noch nicht mit sich im Reinen sein. Er hat zwar vor dem Untersuchungsausschuss den Befehl zum Angriff mit der angespannten Lage rund um das deutsche Feldlager gerechtfertigt. Klein hat aber auch gesagt, er hätte nie so entschieden, wenn er geahnt hätte, dass Frauen und Kinder durch seinen Befehl zu Tode kommen. 22 Todesopfer waren der Bilanz zufolge noch nicht volljährig.
Klein wurde nicht belangt, weder von der Justiz noch von seinem Arbeitgeber Bundeswehr. Die Nato monierte in einer ausführlichen Untersuchung viele Verstöße Kleins gegen die komplizierten Regeln für Luftangriffe, aber der Offizier wurde nicht einmal ermahnt. Die Bundesanwaltschaft prüfte, ob er mit dem Angriff gegen das Völkerrecht verstoßen hat, verwarf diesen Vorwurf aber. Gegen Völkerrecht hätte Klein verstoßen, wenn er vorher gewusst hätte, dass das Bombardement Zivilisten tötet - und den Befehl trotzdem gegeben hätte.
Auch die Bundeswehr, in deren Reihen nicht wenige Klein als Helden verehren, hat Klein schließlich rehabilitiert, im August 2010, wenige Wochen vor dem Jahrestag.
Klein selbst hat sich öffentlich nie zu dem Bombardement geäußert. Einzig sein Anwalt hat eine juristische Erklärung dazu abgegeben. Alle Anfragen lehnte der Oberst ab, der derzeit im Generalstab der 13. Panzergrenadierdivision in Leipzig eingesetzt ist. Einen Teil seines Selbstvertrauens scheint Klein durch die beiden juristischen Entscheidungen zurückgewonnen zu haben. Kürzlich trat er sogar auf einem Sommerfest der Bundeswehr auf.
Karriere wird Klein aber wohl nicht mehr machen. Auch wenn er sich juristisch nichts vorzuwerfen hat, ist eine Beförderung nach Einschätzung ranghoher Militärs aus dem Ministerium unwahrscheinlich.
Ex-Minister Franz Josef Jung

Ex-Minister Jung: Ihn kostete die Affäre das Amt
Foto: dpaFranz Josef Jung will kein Interview. Nein, der Abgeordnete Jung habe keine Zeit für eine Unterhaltung über den 4. September, das teilt sein Büro freundlich, aber bestimmt mit. Dabei könnte viel berichten über den Vorfall. Schließlich war er zu diesem Zeitpunkt Verteidigungsminister, höchster Vorgesetzter von Oberst Klein in Kunduz. Als ihn die Affäre um die Vertuschung der Fakten, um das tagelange Leugnen der zivilen Toten und die bewusste Behinderung der Ermittlungen einholte, war er schon ins Arbeitsressort gewechselt. Das Amt kostete ihn die Affäre trotzdem.
Jung gehört zu den größten Verlierern der Affäre, er musste zu Recht gehen. Als im Fernsehen schon die Bilder von schwerverbrannten Jugendlichen aus den Krankenhäusern liefen, als selbst der Sprecher der Schutztruppe Isaf schon einen Fehler der Nato andeutete, sprach Jung noch immer stoisch von 56 getöteten Taliban und von einem erfolgreichen Einsatz der Bundeswehr.
Am 4. September kam alles zusammen, für das der schwache Minister, von Beginn an nur durch den Länderproporz innerhalb der Union an die Spitze des Wehrressorts gestellt, immer schon kritisiert wurde: nicht gut informiert, vielleicht auch zu wenig interessiert, durch sein Haus und vor allem durch seinen Pressesprecher völlig im Dunkeln gelassen, agierte Jung wie in einer Parallelwelt. Er redete sich um Kopf und Kragen.
Selbst als die Kanzlerin ihn am Wochenende nach dem Angriff dringlich aufforderte, sich bei den Afghanen für die zivilen Toten zu entschuldigen, bekam Jung die entscheidenden Worte vor der Kamera nicht hin.
Doch Jungs Sturz kam spät. Erst im November, als die Diskussion um den Fall Kunduz fast verebbt war, wurde ein erster, sehr kritischer Ermittlungsbericht der deutschen Feldjäger öffentlich, den Jungs Ministerium absichtlich unter den Tisch hatte fallen lassen. Fast typisch für Jung: Er musste am Tag der Veröffentlichung zugegeben, dass er die ersten eigenen Recherchen der Bundeswehr über das Bombardement nicht gelesen hatte.
Der Feldjäger-Bericht war das Ende von Jungs Karriere. Der Hesse, einst Protegé von Ministerpräsident und Hardliner Manfred Kanther, durfte seinen Rücktritt zwar selbst verkünden, aber die Kanzlerin hatte ihn zu dem Schritt gedrängt. Jung ist heute einfacher Abgeordneter, zieht als Ex-Minister noch immer mit einem Tross an Bodyguards durch den Bundestag und hat doch keine echte Aufgabe mehr. Freunde erzählen, er werde die Legislaturperiode noch absitzen, dann wolle er sich wieder dem Weinbau in Hessen widmen.
Ex-Generalinspekteur Schneiderhan, Ex-Staatssekretär Peter Wichert

Schneiderhan, Guttenberg, Wichert: Mit Kontakten gepokert
Foto: AHMAD MASOOD/ REUTERSWolfgang und , die beiden Top-Beamten aus dem Verteidigungsministerium, waren bis zu ihrer Entlassung nach Einschätzung von Insidern mächtiger als jeder Minister im Berliner Bendler-Block. Bei Generalinspekteur Schneiderhan und Staatssekretär Wichert liefen über Jahre die Fäden zusammen, sie horteten Informationen über die Bundeswehr und pokerten mit ihren Kontakten.
Es waren Wichert und Schneiderhan, die am Morgen nach dem Angriff die Hinweise auf zivile Tote und Fehler von Oberst Klein zurückhielten, damit das Bild verzerrten und Minister Jung in die Katastrophe stolpern ließen. Am Ende wurden sie im November vom neuen Minister gefeuert, da dieser sich von den beiden Strategen weder gut beraten noch gut informiert fühlte.
Trotz ihrer Kündigung gaben die beiden zunächst nicht auf. Mit reichlich perfiden Mitteln kämpften sie um ihren vermeintlich guten Ruf. Vor dem Untersuchungsausschuss ließen sie nie erkennen, dass sie etwas falsch gemacht haben könnten. Im Gegenteil: Wichert und Schneiderhan behaupteten, sie hätten stets alle Informationen weitergegeben. Was der Minister daraus gemacht habe, sei nicht ihre Sache gewesen.
Guttenberg hatte mit den beiden Beamten reichlich Probleme. Mit strategischen Tricks versuchten sie, den Neuen an der Spitze des Wehrressorts aufs Glatteis zu führen. Die Versuche scheiterten.
Schneiderhan und Wichert sind nun im Ruhestand und leben zurückgezogen. Wie viele Beteiligte der Affäre äußern sie sich nicht zu den Vorwürfen.
Gouverneur Mohammed Omar

Gouverneur Omar: "Das Beste, was die Bundeswehr je in Kunduz gemacht hat"
Foto: epa Kargar/ picture-alliance/ dpaMohammed Omar kann die Fragen nicht mehr hören. Es ist ein brutal heißer Augustnachmittag in Kunduz-Stadt, um die 45 Grad, die Ventilatoren im Gästehaus der Regierung bringen nichts. Der Gouverneur hat dunkle Schatten unter den Augen. "Was soll ich zu dem Angriff noch Neues sagen", sagt der Politiker, "es war das Beste, was die Bundeswehr jemals in Kunduz gemacht hat, dabei bleibe ich."
Die Aussagen des Gouverneurs haben sich seit dem 4. September nicht verändert. Immer wieder hat er Oberst Klein wegen der Attacke gelobt. Immer wieder hat Omar betont, es seien fast ausschließlich Taliban getötet worden, das hatten Omar und andere Verantwortliche aus Kunduz sogar in einem Brief für die Berliner Regierung festgehalten. Hastig hatte Omar an 30 Familien von getöteten Zivilisten kleine Dollar-Bündel ausgeteilt, eine schnelle Wiedergutmachung.
Der Gouverneur glaubt bis heute an seine Wahrheit über das Kunduz-Bombardement. Aus Sicht der Polizei, der Armee und des Gouverneurs ist jeder Dorfbewohner in der Region ein Taliban - direkt oder indirekt. "Jeder dort kennt die Taliban", sagt Omar, die Bewohner gewährten ihnen Unterschlupf und versorgten sie mit Nahrung. "Deswegen haben sie alle den Tod verdient", tönt Omar.
Seine radikalen Ansichten haben auch persönliche Ursachen. 2009 tötete ein Taliban-Kommando seinen Bruder, und Omar hat Rache geschworen an den Radikalislamisten. Jede Operation gegen die Taliban, sei sie auch noch so brutal, findet seither Omars Zustimmung. Vor allem applaudiert er den in Kunduz eingerückten Amerikanern, die jede Nacht mit Spezialeinheiten auf die Jagd gehen und in den letzten Wochen Dutzende Kämpfer und Kommandeure getötet haben.
Die deutsche Diskussion, vor allem die kürzlich geleisteten Entschädigungszahlungen, findet Omar absurd. "Das Geld landet mindestens zur Hälfte bei den Taliban", sagt er. "Die kaufen dann Waffen davon, die sie später gegen die Bundeswehr einsetzen." Ein Gutes aber habe die Zahlung der 5000 Dollar aus der Kasse der Bundeswehr doch. "Die meisten Dorfbewohner glauben bis heute, ich hätte das Geld organisiert. Deswegen sind sie mir dankbar".
Taliban-Anführer Mullah Abdul Rahman

Taliban-Anführer Rahman: Ständig auf der Flucht vor den Häschern
Foto: Matthias Gebauer / SPIEGEL ONLINEMullah Abdul Rahman ist seit dem 4. September ein Gejagter. Der hagere, hochgewachsene Mann, Vater von acht Kindern, behauptet von sich, 35 zu sein, doch er hat das Gesicht eines 50-Jährigen. Der Kampf für die Taliban hat Abdul Rahman alt gemacht. Über seine Stirn läuft eine tiefe Narbe, eine Kampfverletzung. Sein gestutzter Vollbart ist schon fast ergraut.
Aus der Sicht von Abdul Rahman war die Aktion mit den Tanklastern ein Fehlschlag. Er war es, der die beiden Trucks mit Benzin auf der Straße gen Süden überfiel, sie in Richtung der Taliban-Hochburg Chahar Darreh lenkte. Abdul Rahman war einer der Taliban, die sich später rund um die Trucks aufhielten. Anführer der Radikalen, so hieß es in der Begründung für das Bombardement, seien vor Ort. Eine einmalige Gelegenheit zum Zuschlagen.
Doch Abdul Rahman lebt noch immer. Wie fast alle Taliban-Kämpfer, die an der Entführung beteiligt waren, hatte er sich schon vom Tatort abgesetzt, als am frühen Abend zwei US-Bomber die Region überflogen. Ihm sei klar gewesen, sagte er später in einem Gespräch mit einem SPIEGEL-Reporter, dass bald Bomben fallen würden. Als die 500-Pfund-Bomben explodierten, war Rahman schon weit weg.
Seit dem Morgen des 4. September hat sich das Leben des Talib verändert. Stets auf der Flucht traut er sich aus Angst vor gezielten Raketenangriffen der Amerikaner kaum noch, das Telefon zu benutzen. Jede Nacht muss er sein Versteck wechseln.
Die Jagd auf Abdul Rahman wird weitergehen: Die Bundeswehr stellte den Taliban-Kommandeur nach dem 4. September auf eine Gesuchten-Liste und schrieb ihn damit in ganz Afghanistan zur Fahndung aus. Einmal versuchte im Frühjahr das deutsche Kommando Spezialkräfte (KSK), den Kommandeur mit der Seriennummer 2242 festzunehmen - ohne Erfolg. Den Job werden wohl bald schon die Amerikaner erledigen.
Minister Karl-Theodor zu Guttenberg

Verteidigungsminister Guttenberg: Er wirkt unangreifbar
Foto: DDPObwohl am 4. September 2009 noch Wirtschaftsminister war, wurde die Affäre um das Bombardement zur ersten echten Feuerprobe des Shooting-Stars der deutschen Politik. Kaum im neuen Amt des Wehrministers installiert, wurde der schneidige Minister mit immer neuen Verfehlungen seines eigenen Ladens, ja mit einer konzertierten Vertuschung der Wahrheit, konfrontiert. Er musste sofort handeln. Obwohl Guttenberg nicht für die Bomben verantwortlich war, wären sie ihm beinahe zum Verhängnis geworden. Die Opposition hätte seinen Sturz zu gern erlebt.
Doch Guttenberg war nicht ganz unschuldig daran, dass ihn die Affäre beschädigte. Seine forsche Art machte ihn angreifbar. Ohne echte Prüfung der Sachlage trat er kurz nach Amtsübernahme im Herbst 2009 vor die Kameras, bezeichnete den Angriff als "militärisch angemessen" und stellte sich sogar schützend vor Oberst Klein. Wenige Wochen später, mittlerweile waren neue Details ans Licht gekommen und Guttenberg hatte sich besser mit der Materie vertraut gemacht, musste er sich korrigieren. Nun war der Angriff nicht mehr "angemessen".
Eine solche Kehrtwende wird wohl nur Ausnahmepolitikern wie Guttenberg verziehen. Anderen Kabinettskollegen wäre der Rücktritt sicher gewesen, doch die Beliebtheitswerte des jungen Ministers stiegen weiter. Seine Art kommt bei den Wählern an. Dem Berliner Politikbetrieb hingegen wird der CSU-Minister immer unheimlicher. Er wirkt fast unangreifbar.
Guttenberg dürfte aus der Affäre Kunduz viel gelernt haben. Die Verfehlungen im eigenen Haus nutzte er zu einem grundlegenden Umbau. Leitende Beamte und Militärs wurden kaltgestellt, und die Arbeit der Bundeswehr ist transparenter geworden. Vor allem aber lernte Guttenberg, dass man mit eigenen Bewertungen in militärischen Fragen vorsichtig sein muss.
Bauer Nur Jan

Bauer Nur Jan: "Was ist das für eine Gerechtigkeit?"
Foto: DER SPIEGELEr wäre lieber tot, sagt Nur Jan, 28. Besser gar nicht mehr, als so weiterleben zu müssen. Der Mann mit den eingefallenen Wangen sieht an sich herab. Von seinem rechten Arm ist unterhalb des Ellenbogens nur ein Stummel übrig, er kann ihn kaum bewegen. Nur Jan wäre fast gestorben. Am 4. September, gut anderthalb Stunden nach Mitternacht. Mit einem Plastikkanister in der Hand rannte der Bauer aus dem Dorf Omar Khel zum Kunduz-Fluss.
Nachbarn hatten Nur Jan aus dem Haus gerufen, kurz nach dem traditionellen Mitternachtsessen im Fastenmonat Ramadan. Auf einer Sandbank hatten sich in Kies und Schlamm zwei Tanklaster festgefahren. Um die hundert Menschen waren schon dort, teilweise waren sie eine Stunde zum Fluss gelaufen. Sie füllten sich Benzin ab. Als Nur Jan ankam, fielen die Bomben.
Der Bauer Nur Jan ist eines der Opfer des Bombardements. Auch wenn er den Angriff überlebt hat, werden ihn die Erlebnisse jener Septembernacht wohl immer verfolgen. Bei Fällen wie dem seinen wird sich zeigen, ob die deutsche Wiedergutmachung funktioniert. 5000 Dollar hat Nur Jan von der Bundeswehr bekommen, abgelegt auf einem Konto der Kabul-Bank. Deren blaue Karte trägt der Bauer, der nicht lesen und schreiben kann, nun immer bei sich. Sie wirkt wie ein Fremdkörper in seiner Hand.
Die Geste ist bei Nur Jan wie bei vielen anderen Opfern noch nicht richtig angekommen. Jeweils 5000 Dollar für Familien von 91 Getöteten und elf Verletzten sollen die Opfer aus den Dörfern besänftigen. Vielleicht liegt es daran, dass die Bundeswehr selten selbst auftauchte und die Übergabe letztlich von einer Menschenrechtsgruppe abwickeln ließ. Verwirrend wirkte für die Familien der Opfer auch der Verteilungsmodus.
Nur Jan jedenfalls ist nicht besänftigt. "Die Deutschen haben uns belogen." Viel mehr als 5000 Dollar habe seine Behandlung gekostet, schimpft er. Außerdem versteht er nicht, warum alle Verletzten die gleiche Summe bekommen haben. "Manche haben doch nur Splitter abbekommen", sagt er erregt. "Was ist das für eine Gerechtigkeit?"
Noch hofft Nur Jan zwar, dass die Bundeswehr ihn nach Deutschland fliegt und die Schulter wenigstens richten lässt. Falls das nicht passiert, dann will Nur Jan nicht weiterleben. "Dann will ich lieber als Selbstmordattentäter sterben."
Lkw-Fahrer Abdul Malek

Lastwagenfahrer Malek: Der einzige Augenzeuge der Polizei
Foto: SPIEGEL ONLINE/ Shoib NajafizadaDer 3. September begann gut für Abdul Malek. Ziemlich früh standen der 40-jährige Lasterfahrer der Kabuler Transportfirma Mir Bacha Kot und sein Kollege Hamayon an der tadschikischen Grenze in Shir Khan bereit zum Abfahren. Pünktlich wurde Maleks Mercedes-Benz-Tanklaster, Baujahr 1986, mit 23 Tonnen Benzin im Wert von 33 500 Dollar beladen, Sprit für die Nato-Truppen im fernen Kabul. Gut zwölf Stunden kalkulierte Malek für seine Fahrt dorthin.
In Kabul aber kam Malek an diesem Tag nicht an. Am Steuer von einem der Trucks wurde er am frühen Abend von den Taliban südlich von Kunduz erst überfallen und dann in Richtung Kunduz-Fluss verschleppt. Ein Kämpfer saß bei ihm im Führerhaus, bedrohte und beschimpfte den Lastwagenführer. Als sich die beiden Laster auf der Sandbank festgefahren hatten, schlug der Talib Malek, drohte ihm mit dem Tod, wenn er den Lkw nicht losbekomme.
Malek überlebte das Bombardement nur durch Glück. Da er mit einem Bewacher der Entführer am Rand des Flusses saß, wurde er nur leicht verletzt, konnte fliehen und war später der einzige Augenzeuge für die Polizei.
Die Bilder nach der Explosion kann er nicht vergessen. "Immer wieder träume ich nachts von den verstümmelten Leichen", sagte er kürzlich einem Interview. "Ich kann den Geruch des verbrannten Fleisches noch heute riechen." Er leide seither zudem unter einem starken Ohrgeräusch, berichtete er, Tinnitus.
Seinen Job hat Malek noch, bis heute ist er fast jeden Tag mit dem Laster unterwegs. Nur die Strecke von Tadschikistan nach Kabul meidet er. "Die Angst, das alles noch einmal durchzumachen, könnte ich nicht ertragen."