Kurden-Referendum im Irak "Der einzige Ausweg liegt im Kampf"

Peschmerga-Führer Gawhar
Foto: Sebastian Meyer/ DER SPIEGELEs ist alles eine Frage der Perspektive: Während in den kurdischen Kerngebieten im Nordirak die beiden herrschenden Parteien KDP und PUK Massenkundgebungen organisieren und Tausende für die Unabhängigkeit Kurdistans demonstrieren, klingt es in Kirkuk ganz anders: "Wir wollen nicht von Kurdistan annektiert werden", sagt Ali Mehdi, Provinzratsmitglied der turkmenischen Minderheit. "Alle Einwohner müssen über die Zukunft unserer Stadt entscheiden dürfen, nicht nur die Kurden", sekundiert der arabische Lokalpolitiker Hatim al-Tay.

Unabhängigkeitsreferendum: Der Traum von der Freiheit
Das Referendum, bei dem die Bewohner der kurdischen Autonomieregion am Montag über die endgültige Loslösung Kurdistans vom Irak abstimmen, erscheint aus der Ferne wie der Wunsch eines geeinten Volkes: Nach Jahrzehnten furchtbarer Kämpfe und 26 Jahren der schrittweisen Loslösung von Bagdad will man endgültig frei werden.
Doch was dabei untergeht: Dieses Referendum, auf den Weg gebracht von Kurdistans Präsident Masoud Barzani und seiner KDP, verfolgt noch andere Ziele als nur die Unabhängigkeit. Deshalb ist es bei den Kurden und anderen Bewohnern des Nordirak umstritten.
All jene Gebiete, die von den kurdischen Militärs ab Juni 2014 im Windschatten des Krieges gegen den IS besetzt wurden und in denen Turkmenen, Araber, Jesiden leben, sollen nun dem neuen kurdischen Staat zugeschlagen werden, allen voran die multiethnische Ölstadt Kirkuk. Für Barzani geht es auch um den Machterhalt seiner Familie. Denn in der bisherigen Autonomieregion dürfte er laut Verfassung nicht nochmal als Präsident kandidieren. Weshalb auch viele Kurden unter dem Slogan "Nicht jetzt!" zwar für die Unabhängigkeit, aber gegen dieses Referendum sind.

Um den Stimmen aus dem Inneren Gehör zu geben, hat der SPIEGEL drei ganz unterschiedliche kurdische Vertreter interviewt, einen schillernden Militärführer, einen TV-Mogul und eine Hausfrau.
Goran Gawhar, offiziell Führer einer Peschmerga-Einheit in Tus Churmatu:

Seine Stimme klingt ruhig, sein Bart ist akkurat gestutzt, die kurdische Tracht sitzt makellos. Goran Gawhar ginge problemlos als Finanzmakler oder Jungpolitiker durch, wären da nicht seine Leibwächter, die neben Pistole und M16-Sturmgewehr auch noch Panzerfäuste in Reichweite halten. Gawhars Anhänger sagen, er sei der Retter der Kurden in der Stadt Tus Churmatu, dem südlichsten Vorposten der von Kurden kontrollierten Gebiete im Irak. Seine Gegner sagen, er sei ein Killer-Kommandeur.
Nominell ist der 32-jährige Oberstleutnant der Peschmerga in der seit anderthalb Jahren gespaltenen Stadt: Kurden stellen den Bürgermeister und kontrollieren die eine Hälfte. Schiitische Turkmenen kontrollieren die andere und haben militärische Unterstützung von den schiitischen Milizen aus Bagdad bekommen. Eine bis zu sechs Meter hohe Mauer durchzieht das Zentrum. Als im Mai 2016 eine Handgranate über die Mauer in Gawhars Hof geschleudert wurde, brachen tagelange Gefechte aus .
Und so ist der Mann auch kein normaler Offizier, der auf Befehle wartet. Sondern eher der Anführer einer Kampfgruppe, die zuschlägt, wenn sie es für richtig hält. 200 Mann unterstünden seinem direkten Kommando, sagt er, "aber im Ernstfall kämpft die halbe Stadt an meiner Seite".
Dazu könnte sie bald Gelegenheit haben: Tus Churmatu sollte dem unabhängigen Kurdistan zugeschlagen werden, sagt Gawhar: "Wenn die Regierung in Arbil das will, werde ich es unterstützen!" Für die schiitischen Milizen, die allein in den vergangenen Wochen 1500 bis 2000 Kämpfer nach Tus Churmatu geschickt haben, wäre das ein Kriegsgrund.
Gawhar scheint das nicht zu beunruhigen, im Gegenteil: "Wir können das hier nicht friedlich lösen", sagt der Mann, dessen Eltern 1986 von Saddam Husseins Schergen umgebracht wurden und dessen Haus 2014 von der Luftwaffe aus Bagdad in Schutt und Asche gebombt wurde: "Der einzige Ausweg liegt im Kampf!"
Nazira, Hausfrau, Schwester eines 2014 vom IS umgebrachten Peschmerga:

Er liebte den Duft von Basilikum. Und so bringt Nazira jeden Freitag einen frischen Strauß davon mit, wenn sie das Grab ihres kleinen Bruders auf dem Friedhof von Sulaimanija besucht, tief im Osten Kurdistans.
Gharib Hassan Shkur starb am 5. September 2014, erschossen vom IS an der Westfront. Er wurde 40 Jahre alt. "Natürlich starb er für Kurdistan, natürlich sind wir stolz auf ihn", sagt seine Schwester mit trauriger Stimme: "Aber natürlich wären wir froher, er wäre gar nicht gestorben."
Von der Regierung hätten sie und ihre Schwestern weder eine Entschädigung, noch eine Pension erhalten. Auf das Referendum und die Gefahr eines neuen Krieges angesprochen, wiegt sie melancholisch den Kopf: "Wir wollten hier weniger kämpfen und weniger sterben." Ihr Vater sei damals im Kampf gegen Saddam Husseins Armee umgekommen, ebenso ein Neffe, und damals hätten sie noch nicht einmal den Leichnam zurückbekommen.
Sie seien einfache Leute, die gerade so über die Runden kämen. Sie haben überlegt, auszuwandern - wie so viele. Doch sie sind geblieben, auch, weil sonst niemand mehr das Grab pflegen und frischen Basilikum auf die Steinplatten legen würde: "Aber was bringen all diese politischen Beschwörungen? Wir sollten nach friedlichen Lösungen mit Bagdad, mit unseren Nachbarstaaten suchen, damit nicht noch mehr Menschen sterben."
Shaswar Qadir, Fernsehmogul:

Ein Mordversuch, Todesdrohungen in Serie, Brandanschläge auf seine Studios: Inhaber privater Fernsehsender haben normalerweise ein ruhigeres Leben als Shaswar Qadir. Andererseits spricht es für den eigenartigen Schwebezustand der autonomen Kurdenregion im Nordirak, dass sein Sender NRT von den Behörden nicht einfach geschlossen wird. Der TV-Mogul stammt nicht aus einer der herrschenden Familien, sondern hat sich aus eigener Kraft hochgearbeitet, eine Ausnahme in der Gegend. Als Teenager fing er an, Computerspiele an andere Jugendliche zu verkaufen, wurde Bauunternehmer und gründete 2011 seinen Sender unter dem Motto "Mut, Ausgewogenheit, Wahrheit".
Doch was so schwülstig klingt wie der Namensreigen kurdischer Parteien, das meint der Enddreißiger offensichtlich ernst. Denn Shaswar, wie ihn jeder in Kurdistan nennt, ist zu einem der Wortführer der kurdischen Opposition gegen das Unabhängigkeitsvotum geworden.
Das scheint nur auf den ersten Blick paradox: "Dieses Referendum ist doch bloß ein Vorwand der alten kurdischen Führer, sich auf ewig an der Macht festzuklammern", sagt er und zählt auf, was schon das derzeitige Kurdistan alles nicht habe: "keine Wirtschaft, sondern nur eine Pipeline, kein Parlament, keine geeinten Streitkräfte, kein funktionierendes Rechtssystem". Kurz: Bevor man sein künftiges Land übereilt in Konflikte mit Bagdad und den Nachbarländern treibe, müsse man doch erstmal daheim Staat machen: "Was für ein Kurdistan wollen wir? Ein Land wie Südkorea oder ein Land wie Südsudan?"