Kurdenverfolgung in der Türkei "Wir mordeten nachts, während der Überstunden"
Istanbul - Der kurdische Geschäftsmann Nimet Karaaslan hatte kein Glück mit seinem neuen Unternehmen. Als er im Frühjahr 1993 nahe der türkisch-syrischen Grenzstadt Cizre ein schmuckes kleines Restaurant eröffnete, tauchten Männer mit dunklen Sonnenbrillen und Maschinenpistolen auf. "Überlass uns dein Lokal", befahlen sie.
Die Mitglieder einer Spezialeinheit der türkischen Gendarmerie - zuständig für "Nachrichtenbeschaffung und Terrorabwehr", kurz: Jitem - machten es sich bei Karaaslan gemütlich. Sie übten mit ihren Waffen, sie richteten sich ein Verhör- und Folterzentrum ein. Das Restaurant lag günstig: Zur Vorderseite mit Blick auf die schneebedeckten Gipfel der Cudi-Berge, wo sich Einheiten der kurdischen Untergrundbewegung PKK bis heute verschanzt halten. Zur Hinterseite mit Blick auf den Tigris, der die Türkei von Syrien trennt.
Vor dem Gebäude erstreckt sich der Ipek Yolu Highway, die alte Seidenstraße, in Richtung Irak. Dahinter: Meterhohe grüne Maisfelder und mittendrin ein unauffälliger Brunnen - ideal, um zu verscharren, wer vorher exekutiert wurde.
In den umliegenden Dörfern hielten sie den Mund, als die Armee 2002 den Ausnahmezustand für die Region aufhob und die Männer vom Jitem aus der zerschossenen Ruine abzog. Wer von Karaaslans Restaurant erzählte, riskierte lange Zeit, selbst zu verschwinden.
Seit Anfang März aber rollen Bagger an, Arbeiter schaffen Bergungsgerät über die Seidenstraße heran. Seit Anfang März passiert das Unerhörte im Südosten der Türkei - in Cizre, in Silopi, in Kutepe und überall dort, wo lokale Anwälte einen Antrag auf Öffnung der "Todesbrunnen" gestellt haben. Türkische Behörden haben angefangen, nach den Überresten verschwundener Kurden zu graben - und damit eines der düstersten Kapitel des Landes aufzuarbeiten: den schmutzigen Krieg der Sicherheitskräfte gegen Anhänger der PKK und all jene, die im Verdacht standen, mit ihr zu sympathisieren.
Auf der Straße erschossen, "wie ein Tier"
Zu Tausenden wurden in den achtziger und neunziger Jahren Bürgerrechtsaktivisten, Politiker und Geschäftsleute mit angeblichen Verbindungen zur PKK entführt und ermordet. Wie viele es genau waren, weiß niemand, nur in wenigen Fällen wurden die Opfer identifiziert. Viele Leichen landeten in den Brunnen oder wurden mit Säure übergossen und auf die Felder geworfen - zur Abschreckung. Die meisten aber verschwanden spurlos und gelten bis heute als verschollen.
Darunter ist der kurdische Bauarbeiter Ramazan Solmaz. Seine Frau Piroze sah ihn zuletzt am 15. Januar 1993. "Er war auf dem Weg zur Arbeit, da haben sie ihn abgefangen", erzählt sie. "Das ist alles, was ich weiß. Es gibt keine Spuren, keine Beweise. Ich würde nur gern wissen, wo seine Leiche liegt. Ich möchte ihn begraben." Gemeinsam mit einer Freundin hat sich Piroze in die Anwaltskammer von Cizre getraut. "Selahattin, mein Mann, wurde 1998 am helllichten Tag auf der Straße erschossen", erzählt die Begleitung, eine jüngere Frau, die sich in einen pechschwarzen Caraf, das traditionelle kurdische Gewand, gehüllt hat. "Einfach so. Wie ein Tier."
Natürlich dachten die Frauen damals nicht an eine Strafanzeige. In Cizre legte sich niemand folgenlos mit den Mächtigen an. Dazu gehörten die Militärs, Jitem-Leute, aber auch Mitglieder der radikal-islamischen türkischen Hizbullah. Sie herrschten über Leben und Tod in Cizre, der tristen Grenzstadt am Tigris, als draußen in den Bergen der Kampf zwischen der Armee und der PKK tobte. Zum Bürgermeister ließ sich damals ein brutaler Clanführer namens Kamil Atak ernennen, ein ehemaliger Schäfer, der seine Gefangenen mit Vorliebe an die Hizbullah-Kämpfer "verfütterte", wie es ein Lokalpolitiker in Cizre formuliert.
Angst und Schrecken verbreitet
Atak stand noch lange nach dem Ende des Ausnahmezustandes im Jahr 2002 unter dem Schutz des Sicherheitsapparats. Vor zwei Monaten, am 23. März, wurde er jedoch bei einer landesweiten Polizeioperation festgenommen: Er war ins Visier der "Ergenekon"-Ermittler geraten. Kurz darauf wurde der Gendarmeriekommandeur Cemal Temizöz verhaftet - auch er hatte in Cizre Angst und Schrecken unter den Kurden verbreitet.
"Ergenekon" lautet der Name einer volkstümlichen Sage, und es ist zugleich die Bezeichnung für ein ultranationalistisches Verschwörernetzwerk. Die Angeklagten - Ex-Militärs, Polizisten, Journalisten, Professoren und ganz gewöhnliche Mafiosi - werden beschuldigt, sie hätten einen Staatsstreich gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vorgehabt. Seit einem halben Jahr stehen sie vor Gericht, es ist der heikelste Prozess in der jüngeren Geschichte der Türkei.
Auch Veli Kücük ist angeklagt, er ist ein pensionierter General und gilt als Gründer des Nachrichtendienstes Jitem. Seine Verhaftung im Januar 2008 war die eigentliche Sensation des vergangenen Jahres. Schließlich galt der freundlich wirkende Großvater als unantastbar. Ob Kücük vom Militär als Bauernopfer fallen gelassen wurde oder er den Generälen in Ankara als zu mächtig geworden war, ist allerdings unklar.
Jitem: Die bestialischen Verhörmethoden der Schergen
Für die Armeespitze ist das Thema Jitem noch immer tabu. Seine Existenz wird in Ankara bis heute dementiert. Allenfalls eine "Konterguerilla" gegen die PKK habe es gegeben, lautet die halboffizielle Version; jene habe allerdings längst ihren Dienst erfüllt und sei aufgelöst worden. Ähnlich klingt das aus dem Mund eines früheren Ministerpräsidenten, Mesut Yilmaz, der in einem Fernsehinterview behauptet hatte, Jitem existiere "nicht mehr".
Die wohl umfassendsten Berichte finden sich in den Memoiren ehemaliger Jitem-Agenten. Einer von ihnen heißt Abdülkadir Aygan und lebt heute in Schweden. Das Brisante: Aygan war zunächst PKK-Mitglied und wurde später für Jitem rekrutiert. Wie sein letzter Arbeitgeber vorging, beschreibt der Überläufer so: "Wir mordeten nachts, während der Überstunden, wenn die regulären Soldaten nicht mehr anwesend waren." Und weiter: "Viele unserer Gefangenen wurden vom Gericht oder der Gendarmen angezeigt, viele aber auch von ganz normalen Mitbürgern denunziert. Eine Befragung durch die Jitem-Leute hat niemand überlebt."
Das Schicksal des Hasan Ergül
Auch andere ehemalige Handlanger im Dienste des Staates erinnern sich nun an den Krieg gegen die PKK. Leute wie Tuncay Güney oder Yildirim Begler. Aus ihrem sicheren Exil in Kanada, Schweden oder Norwegen nennen sie Namen von Opfern und Orten, an denen Massengräber zu finden sind. Sie beschreiben die bestialischen Verhörmethoden, die Mordbefehle, die stets "von ganz oben" kamen. Sie erzählen, wie die Gendarmen die Getöteten in Säurebäder tauchten und in Schächten verschwinden ließen. Immer wieder erwähnen sie auch die damals typischen Jitem-Dienstfahrzeuge: weiße Renaults vom Typ Toros. Wenn die Todesengel in ihren weißen Autos auftauchten, wussten die Bewohner, dass bald ein Freund oder Nachbar verschwinden würde.
Wie real die Enthüllungen der Jitem-Veteranen sind, zeigt der Fall des verschwundenen Kurden Hasan Ergül. Am 23. Mai 1993 hatte sich der Bauer aus dem Dorf Cukurca mit seinem dreijährigen Sohn in einen Traktor gesetzt und war zu einem Krankenhausbesuch in die Stadt gefahren. Doch er kam nicht weit. Schon an der nächstgelegenen Tankstelle schnitten ihm drei Wagen den Weg ab, Männer in Zivil stiegen aus und drängten Hasan aus dem Fahrzeug, zwangen ihn auf die Rückbank eines Autos. Seinen weinenden Sohn ließen sie zurück.
Dass sie ihn später erwürgen sollten, in einen Sack stecken und in einem weit entfernten See entsorgen würden, erfuhren Hasans Angehörige erst nach vielen Jahren - als sie von den Geständnissen des Jitem-Manns Abdülkadir Aygan hörten. Denn alle eigenen Nachforschungen, die Hasans Brüder bis dahin angestellt hatten, blieben fruchtlos.
"Dann haben wir endlich Gewissheit"
Nach der Lektüre von Aygans Berichten konnten die Brüder nachvollziehen, wo Hasan versenkt wurde; wo ihn später Fischer geborgen hatten und wo er als nicht identifizierte Leiche in einem anonymen Grab nahe des Sees bestattet wurde. "Wir warten jetzt auf die Ergebnisse eines DNA-Tests", sagt Hasans Bruder Ata Ergül. "Dann haben wir endlich Gewissheit."
Es ist ein Fortschritt erkennbar - dennoch sind die Signale, die derzeit aus der Türkei dringen, widersprüchlich: Erstmals scheint das Land bereit, sich mit seiner jüngeren Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch während der schmutzige Krieg von damals aufgeklärt wird, geht zur selben Zeit der andere - der Krieg zwischen der Armee und der PKK - weiter. Die Separatistenbewegung wurde zwar militärisch stark geschwächt, ihr Anführer Abdullah Öcalan sitzt seit Jahren im Gefängnis. Doch ist sie noch immer zu fatalen Bombenanschlägen im Stande: Erst Ende April starben neun türkische Soldaten, als ihr Fahrzeug, ferngezündet, in die Luft flog.
Der Staat geht einem Dialog mit der größten Kurdenpartei, der DTP, die Gesprächskanäle zur PKK hat, aus dem Weg. Und antwortet lieber mit der Ordnungsmacht: Mehr als 200 DTP-Politiker wurden in den vergangenen Wochen verhaftet.