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Lagerhaft für Blogger Nawalny Putin lässt seinen schärfsten Kritiker kaltstellen

Noch im Gerichtssaal wurde er verhaftet: Russlands Oppositionsführer Nawalny wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Selbst Zeugen der Anklage halten den Prozess für eine "politische Auftragsarbeit". Seine Kandidatur für die Moskauer Bürgermeisterwahl hat er abgesagt.

Alexej Nawalny, Blogger und einer der Anführer der russischen Opposition, hatte nicht mehr mit einem Freispruch gerechnet. Als er das Gebäude des Gerichts in der Provinzstadt Kirow betrat, das wie zu Sowjetzeiten den Namen von Revolutionsführer Lenin trägt, hielt er in der Hand eine Sporttasche mit allem, was in einem russischen Gefängnis nützlich sein kann: Trainingsanzüge, Geschirr aus Plastik und Besteck aus Plastik, Shampoo, eine Zahnbürste.

Auf seine Haft hat sich Nawalny also so gründlich vorbereitet wie auf den Prozess, in dem er nun verurteilt wurde. Fünf Jahre Lagerhaft wegen Veruntreuung in "besonders großem Umfang", so lautet das Urteil von Richter Sergej Blinow. Mit dem Strafmaß stellt Russlands Justiz den schärfsten Kritiker von Präsident Wladimir Putin kalt.

Nawalny hält die Verhandlung für einen Racheakt des Kreml. In seinem Blog hatte er Freunden und Vertrauten von Putin Korruption vorgeworfen. Im Parlamentswahlkampf 2011 machte er Front gegen die Staatspartei "Einiges Russland" - Nawalny bezeichnet sie als "Partei der Gauner und Diebe". Den Schlachtruf kennt heute das ganze Land.

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Alexej Nawalny: Urteil gegen den Anti-Putin-Blogger

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SERGEI KARPUKHIN/ REUTERS

Zur Jahreswende 2011/2012 dann setzte sich Nawalny an die Spitze der Proteste gegen die Rückkehr von Putin in den Kreml. Anfang September wollte Nawalny bei den Moskauer Oberbürgermeisterwahlen antreten. Weil er nach russischem Recht als Vorbestrafter nicht mehr bei Wahlen antreten darf, hat sein Wahlkampfchef schon kurz nach dem Urteil Nawalnys Verzicht auf eine Kandidatur erklärt. "Das Format der Agitation ändert sich. Der Wahlkampfstab wandelt sich in einen Boykottstab", sagte Leonid Wolkow.

Die Vorwürfe

Nawalny soll sich in Kirow der Veruntreuung schuldig gemacht haben. Es geht um 10.000 Kubikmeter Holz aus dem Staatswald im Wert von 16 Millionen Rubel, umgerechnet 370.000 Euro. Die Vorwürfe reichen zurück bis ins Jahr 2009. Nawalny war damals als Berater des liberalen Provinzgouverneurs von Kirow tätig.

Den hatte Putins Kreml-Statthalter Dmitrij Medwedew eingesetzt. Medwedew war schwach, aber an Reformen interessiert. Mit Nikita Belych ernannte er in Kirow einen Mann zum Gouverneur, der nur wenige Monate zuvor noch bei Demonstrationen gegen den Putin auf die Straße gegangen war.

Kirow war ein vielbeachtetes Experiment - eine Nische, die Medwedew der Opposition öffnete. Die Regierungsgegner sollten beweisen, dass sie selbst regieren können .

Nawalny hatte sich in Moskau als Kämpfer für Transparenz in Staatsunternehmen wie Gazprom einen Namen gemacht, und kannte sich gut mit Bilanzen aus. Belych holte ihn nach Kirow, Nawalny sollte dem Gouverneur bei der Sanierung der maroden staatlichen Forstbetriebe helfen.

Die Staatsanwaltschaft wirft Nawalny aber vor, seine Beraterstellung ausgenutzt zu haben. Er soll die staatlichen Förstereien gezwungen haben, Holz aus dem Staatswald an die Firma seines Bekannten Pjotr Offizerow zu verkaufen. Offizerow ist Unternehmer aus Moskau, er wurde vom Gericht in Kirow zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt.

Der Prozess

Die Beweisführung der Anklage war nicht geeignet, Prozessbeobachter von Nawalnys Schuld zu überzeugen. Seit 2009 waren die Ermittlungen mehrfach eingestellt worden, auf Drängen des staatlichen Ermittlungskomitees aber wurde das Verfahren wieder eröffnet. Chef der Behörde ist ein Studienfreund von Putin.

Als Berater des Gouverneurs hatte Nawalny kein Amt, sein Posten war ehrenamtlich. Gegenüber den Förstereien war er damit nicht weisungsbefugt. Die Anklage argumentierte, Nawalny habe allerdings kraft seiner langjährigen Freundschaft zum Gouverneur Belych Einfluss genug gehabt, um Druck auszuüben. Nawalny habe zudem ein Büro im Gebäude der Provinzverwaltung gehabt und das Wort bei Versammlungen der Administration geführt. Zeugen konnten sich daran aber nicht erinnern. Vor Gericht verlas die Staatsanwaltschaft Mitschriften von Telefongesprächen Nawalnys. Der Geheimdienst hatte sie ohne richterliche Anordnung abgehört.

Natalija Koretnik, 2009 Direktorin einer Försterei und eigentlich aufgerufen als Zeugin der Anklage, gab zu Protokoll, sie halte das Verfahren gegen Nawalny für "eine politische Auftragsarbeit".

Die Verteidigung

Nawalny ist gelernter Jurist. Während der Verhandlungen nahmen zwar seine Anwälte neben ihm Platz. Das Kreuzverhör der Zeugen übernahm er aber zumeist selbst. Seine Strategie setzte an folgenden Punkten an:

  • Der Lage in Kirow: Die Forstbetriebe seien beim Antritt des neuen Gouverneurs ineffizient und von Korruption zerfressen gewesen. Weil korrupte Mitarbeiter seit Jahren unter der Hand Holz verkauften und das Geld in die eigene Tasche steckten, sei das Unternehmen überschuldet gewesen. In der Wirtschaftskrise 2009 sei zudem die Nachfrage nach Holz eingebrochen. Der nun ebenfalls verurteilte Unternehmer Offizerow habe geholfen, den Absatz anzukurbeln.

  • Der Hauptbelastungszeuge: Kronzeuge der Anklage ist der ehemalige Geschäftsführer des Forstbetriebs. Wjatscheslaw Opalew hatte 2012 die Beteiligung an der angeblichen Unterschlagung von 16 Millionen Rubel gestanden und eine Übereinkunft mit den Ermittlern geschlossen. Er war zu vier Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Nawalny glaubt, die Ermittler hätten ihm eine milde Strafe zugesichert, wenn er im Gegenzug den Oppositionellen belaste.

Wie geht es weiter?

Nawalny will Oberbürgermeister von Moskau werden. Am Mittwoch wurde er offiziell als Kandidat für die Wahl im September zugelassen. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, bleibt er offiziell Kandidat.

Das Ziel des Kreml, Nawalny in den Augen der Bevölkerung als korrupt zu diskreditieren, scheint der Prozess verfehlt zu haben. Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums glauben 44 Prozent der Russen, dass Nawalny nur deshalb der Prozess gemacht wurde, um ihn mundtot zu machen. 13 Prozent halten das Urteil für den Versuch, Nawalnys Moskauer Kandidatur zu verhindern. Nur 23 Prozent glauben, dass der Grund für die Anklage tatsächlich Veruntreuung von Geldern ist.

Für den Abend haben Nawalnys Anhänger Demonstrationen in Moskau angekündigt. "19 Uhr. Still, friedlich und bis zum Ende", schreiben sie auf Twitter.

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