Leben in Israel Stell dir vor, es ist Krieg und keiner schaut hin

Abgefeuert: Zwei Kassam-Raketen fliegen im Norden des Gaza-Streifens in die Luft
Foto: DPAStellen Sie sich vor, Sie leben in einer Kleinstadt, sagen wir in Nordhorn, stehen jeden morgen auf, bringen Ihre Kinder zur Schule, fahren zur Arbeit und wissen nicht, ob das Haus, in dem Sie leben, am Abend noch bewohnbar ist. Oder ob die Schule, in der Sie Ihre Kinder abgesetzt haben, im Laufe des Tages von einer Rakete getroffen wurde.
Sie überlegen sich zweimal, bevor Sie auf den Markt oder in ein Café gehen; aber auch Daheim sind Sie nicht sicher, es sei denn, Sie leben in einem fensterlosen Bunker. Nachts werden Sie vom schrillen Ton der Alarmsirenen wach, dann haben Sie ein paar Sekunden Zeit, einen "geschützten Raum" auf der anderen Straßenseite aufzusuchen. Sie leiden ständig unter Schlafstörungen, ihre Kinder können sich im Unterricht nicht konzentrieren. So geht das schon seit Jahren, tagaus, tagein - weil irgendwelche Irren im holländischen Hengelo Raketen auf Nordhorn abfeuern.
Die Situation besteht seit sechs Jahren
Auch die Behörden in Hengelo können oder wollen nichts unternehmen, die Raketen werden von mobilen Rampen abgefeuert, die leicht aufzubauen und schwer zu lokalisieren sind. Oft stehen sie mitten in Wohngebieten.
So was gibt es nicht, werden Sie sagen, so was Absurdes kann es nicht geben. Jedenfalls nicht zwischen Nordhorn und Hengelo. Stimmt. Aber es ist genau die Situation, in der die Bürger von Sderot seit sechs Jahren leben.
Sderot ist eine israelische Kleinstadt, 70 Kilometer südlich von Tel Aviv und 40 Kilometer nördlich von Beer-Scheva. Sderot liegt nicht in den "besetzten Gebieten", sondern mitten in Israel in den Grenzen von 1967. Sderot wurde nicht auf den Ruinen eines palästinensischen Dorfes erbaut, sondern Anfang der 50er Jahre aus dem Wüstenboden gestampft.
In Sderot leben vor allem Einwanderer aus Nordafrika und der ehemaligen Sowjetunion, die sich eine Wohnung in Tel Aviv oder Jerusalem nicht leisten können. Das Leben in Sderot ist preiswert, aber auch gefährlich. Denn gleich nebenan ist Gaza. Und obwohl der Gaza-Streifen von den Israelis im Sommer 2005 komplett geräumt wurde, wird die Gegend um Sderot jeden Tag von Gaza aus mit "Kassam"-Raketen beschossen. Allein am vergangenen Mittwoch wurden mindestens 18 Einschläge gezählt. Dass dabei nur eine Wohnung zerstört und nur eine Frau verletzt wurde, ist allein dem glücklichen Zufall zu verdanken.
Hauptsache, es kracht
Dennoch kommt Sderot in den Nachrichten so gut wie nicht vor - es sei denn, eine Kassam-Rakete richtet mehr als nur "Sachschaden" an. Wobei regelmäßig hinzugefügt wird, die Kassam-Raketen seien "primitiv" und "selbst gebaut", als würde es sich nicht um fliegende Bomben von immerhin 15 bis 20 Kilometer Reichweite handeln, sondern um Feuerwerkskörper, die gleich nach der Zündung verpuffen.
Sie werden sich nun fragen, was die Terroristen mit ihren Aktionen erreichen wollen. Soll Sderot geräumt werden? Das wird natürlich nicht passieren. Soll Israel zu Verhandlungen mit den Palästinensern gezwungen werden? Die finden bereits statt. Diejenigen, die in Gaza das Sagen haben, ob es nun die Hamas, der Jihad oder andere sind, wollen nur eines: Israel zu einem massiven Gegenschlag provozieren, um sich hinterher als die Opfer einer Aggression darstellen zu können.
Den Terroristen sind nicht nur die Leiden der Israelis sondern auch die der eigenen Bevölkerung völlig egal. Hauptsache, es kracht. Für alles Übrige sind die PR-Agenturen und die Uno zuständig.
Nicht einmal solidarische Lippenbekenntisse
In Deutschland, wo man bei jeder Gelegenheit die "besondere deutsche Verantwortung" für Israel betont, die ihren Ursprung in der Geschichte hat, gibt es nur eine einzige Gemeinde, die eine Städtepartnerschaft mit Sderot unterhält: Es ist der Berliner Bezirk Zehlendorf. Ansonsten gibt es nicht einmal solidarische Lippenbekenntnisse.
Haben sich vor dem Ausbruch des Irak-Krieges zahlreiche deutsche Friedensfreunde als "menschliche Schutzschilder" gegen amerikanische Bomben auf den Weg in das Krisengebiet gemacht, so bleiben sie nun lieber zu Hause, um sich mit der Hamas und der Hisbollah zu solidarisieren.
Konstantin Wecker, der im Januar 2003 nach Bagdad reiste, um dort ein Solidaritätskonzert zu geben, plant keinen Besuch in Sderot. Die Osnabrücker Symphoniker, die im August dieses Jahres in Teheran zwei Konzerte gaben, um den "kulturellen Dialog" zwischen der Bundesrepublik und der Islamischen Republik Iran zu fördern, würden ihre wertvollen Instrumente nicht riskieren, um den Einwohnern von Sderot eine musikalische Freude zu bereiten.
Köhler besuchte Sderot heimlich
Auch das Berliner Ensemble unter Claus Peymann, das im Februar kommenden Jahres Brechts "Mutter Courage" in Teheran aufführen will, wird auf seinem Weg in den Mittleren Osten einen weiten Bogen um Sderot machen. Nicht einmal Karl Moik oder James Last, die schon Arabien bespielt haben, mögen die Kleinstadt am Rande der Negev-Wüste besuchen.
Der einzige deutsche Politiker, der bis jetzt Sederot besucht hat, war Bundespräsident Köhler im Rahmen eines Israel-Besuches im Februar 2005. Die kurze Visite stand nicht im offiziellen Programm und wurde bis zuletzt geheim gehalten, um Köhler nicht zu gefährden.
Stattdessen fordern immer mehr deutsche Politiker ein Ende des Hamas-Boykotts und "Verhandlungen" mit der "Regierung" des Gaza-Streifens, um eine "humanitäre Katastrophe" in Gaza abzuwenden, wo es den Einwohnern an allem mangelt, nur nicht an Waffen und Munition.
Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie leben in Sderot, stehen jeden morgen auf, bringen Ihre Kinder zur Schule, fahren zur Arbeit...
Würden Sie nicht viel lieber in Nordhorn leben, mit den netten Nachbarn von Hengelo nebenan?