Kriegsschrott in Libyen Tod unterm Olivenbaum
Der Olivenbaum wirft einen langen Schatten. Bald ist Erntezeit, die Äste tragen schwer an den schwarzen Früchten. Doch die Idylle täuscht. Fast wäre der Krieg wieder da gewesen, und es ist ein Wunder, dass der betagte rote Traktor von Medad Ali Kamadin nicht zerfetzt und ausgebrannt auf dem Acker steht. Ein Wunder, dass der Bauer nicht verblutet daneben liegt. "Ich hörte ein metallenes Kratzen beim Pflügen. Als ich mich umgedreht habe, sah ich sie", sagt der 55-Jährige und zeigt auf die Artilleriegranate, die im Erdreich nahe dem Olivenbaum steckt.
"Unglaublich, und du bist mit dem Pflug darübergefahren?", fragt Joma Sabti und schüttelt den Kopf. Dann "zäunt" er zusammen mit seiner Kollegin Wedad Dwini die Fundstelle ein. Spannt mit rotweißem Plastikband ein Viereck. Drückt dem Bauer ein Flugblatt in die Hand und warnt: "Lass die Kinder ja nicht zu nahe heran."
Sabti gehört zum Hotline-Team von Handicap International (HI). Der Besuch bei Bauern wie Medad Ali Kamadin gehört für ihn zum Alltag. Kaum ein Tag, an dem nicht jemand anruft, weil er irgendwo auf eine Granate, Bombe oder Munition gestoßen ist. Der junge Mann sichert dann die Fundstelle. Später rücken die Entschärfer der Hilfsorganisation an. Können sie den Zünder unschädlich machen, wird der Blindgänger mitgenommen. Wenn es nicht anders geht, wird er gleich vor Ort in die Luft gejagt.
An manchen Tagen stehen Joma Sabti und seine Kollegin Wedad Dwini auch vor Schulklassen, blicken in aufgerissene Augen und offene Kindermünder, wenn sie erzählen, wie eine Granate einen ganzen Arm abreißen kann. "Kinder sind oft Opfer. Sie halten das Teufelszeug für Spielzeug", sagt Joma Sabti. Finanziert werden die HI-Programme - von der Warnung vor Blindgängern bis zu ihrer Entschärfung - vom Auswärtigen Amt.
Bei Misurata schlugen die Bomben tausendfach ein
"Das hier war ein gewaltiges Schlachtfeld im Aufstand gegen Gaddafi", sagt Sabti, als der Wagen weiterholpert. Auf der nahen Asphaltstraße reihen sich ausgebrannte Panzer aneinander. Doch die Kämpfe im Jahr 2011 haben weitaus gefährlichere Spuren hinterlassen.
Der nächste Hotline-Anruf kommt fast aus der Nachbarschaft. Auf den Feldern des Dorfs Dafnia, ein Vorort von Misurata, schlugen die Granaten tausendfach ein. Beide Seiten schossen, bis die Rohre glühten.
Geblieben ist bei Mohammed Hwiedi die Angst und ein Feld voller Splitter. Deformierte Raketenteile, Reste von Propellergranaten, Geschosse. Als die HI-Mitarbeiter über das Feld gehen, liegt ihnen ungezählter Kriegsschrott zu Füßen. "Ich werde das Feld nicht bearbeiten, solange nicht jeder Quadratmeter Boden gesichert ist", sagt der Bauer. Doch das kann dauern. Rund um Misurata liegen noch unzählige Sprengkörper. Mohammed Hwiedi weiß derweil nicht, wie er langfristig das Überleben seiner Familie sichern soll. "Ich muss bald meine Felder bestellen können. Die Ersparnisse sind fast aufgebraucht", sagte der 55-Jährige und senkt den Kopf.
Paul McCullough kennt die Nöte. Der britische Ex-Militär entschärft für Handicap International in Misurata die tödlichen Überbleibsel des Bürgerkriegs. "Es ist ungeheuerlich, welche gewaltige Anzahl von Waffen in Libyen im Umlauf ist. Es scheint, dass Gaddafi alles an Waffen gekauft hat, was er nur kriegen konnte. Nachdem im Bürgerkrieg die Arsenale geplündert wurden, stellen sie heute eine Gefahr für die Zivilbevölkerung dar", sagt der 50-Jährige. Der Versuch, die Arsenale am Kriegsende zu sichern, scheiterte kläglich. Die Folgen sind bis heute nicht absehbar.
Container für Waffenschrott neben der Schule
Der Brite fährt mit dem Geländewagen die Tripoli Street entlang, im Bürgerkrieg für Monate die Frontstraße. Heute reihen sich hier die Ruinen nahtlos aneinander. Pockennarbige Hausfassaden, von MG-Feuer und Raketenbeschuss zerfressenes Mauerwerk. Vor einem Gebäude haben Stadtbewohner eine Art Gedenkstätte errichtet und wahllos Kriegsgerät geparkt. Ein Raketenwerfer steht am Straßenrand, immer noch mit scharfer Rakete bestückt. Paul McCullough schüttelt ärgerlich den Kopf.
Immerhin, die ersten Renovierungen werden zaghaft angegangen. In einer ehemaligen Ruine hat gerade ein Restaurant eröffnet. Der Eigentümer hat es trotzig Stalingrad genannt. Es gibt Pizza und Kebab.
McCullough ist auf Sammeltour. Aus einem Container am Stadtrand haben sie eine Katjuscha-Rakete mitgenommen, auf die Pritsche ihres Pick-ups geladen. Jetzt geht es zum Sammelpunkt der Miliz. Die hat in Misurata das Sagen und vor einer ihrer Wachen zwei Container aufgestellt, in der die Blindgänger landen. "Ausgerechnet neben einer Grundschule", sagt McCullough, als sie den dortigen Kriegsmüll sachgerecht auf die Ladefläche hieven: Artilleriemunition und eine weitere Rakete.
Dann geht es weiter zum Ziel des Tages, ein verlassenes Militärgelände nahe dem Flughafen. Dort zeigt McCullough was er damit meint, dass das Land mit Kriegsgerät überschwemmt ist. Dicht an dicht liegen entschärfte Granaten nebeneinander. Russen, Chinesen, Bulgaren, Belgier - alle haben sie geliefert. Phosphorbomben, Propellergranaten, das ganze Sortiment. Jahrzehntelang. Jetzt entschärft das Team von Handicap International die Sprengkörper, um sie anschließend in gewaltigen Gruben in der Wüste zur Detonation zu bringen.
Einer aus dem Team von Handicap International hält den Alptraum westlicher Geheimdienste in die Höhe: eine Kleinst-Flugabwehrrakete. Damit kann mühelos eine Passagiermaschine vom Himmel geholt werden. Tausende der tragbaren Systeme sollen in Libyen gelagert worden sein. Ein Großteil gilt als verschollen.
Schüsse in der Nacht
Hinter den aufgereihten Sprengkörpern verschmelzen die Silhouetten von Bunkern mit der flirrenden Hitze. Nato-Bomben haben hier ganze Arbeit geleistet und die meterdicken Munitionsbunker geknackt. Was nicht sofort explodierte, wurde über Hunderte von Metern in die Umgebung geschleudert. "Und das ist heute unser Problem", sagt der 50-Jährige. Das Entschärfer-Team macht Feierabend. Es war ein langer und heißer Tag. "Verrückt, wenn man bedenkt, dass man mit dem Geld, das dieser Müll gekostet hat, Sinnvolles hätte machen können", sagt der britische Bomben-Mann zum Abschied.
Als die Nacht über Misurata hereinbricht, hört man an allen Ecken und Enden Schüsse. "Es ist Donnerstag, da sind viele Feste und Hochzeiten", beruhigt ein alter Mann in einer Konditorei in brüchigem Englisch. Keiner der Kunden reagiert auf die Salven, die in der Ferne immer wieder hämmern. Die Freudenschüsse fordern mittlerweile zahlreiche Unfälle. Die neugewählte Regierung hat Programme begonnen, um die Waffen einzusammeln. Vor allem die Demobilisierung der Milizen bleibt das heiße Thema in Libyen.
Von der staatlichen Waffensammlung hat auch der alte Mann gehört. "Ich hab im Fernsehen gesehen, wie einer einen Panzer abgegeben hat", sagt er und grinst. "Wahrscheinlich steht noch ein zweiter hinter seinem Haus."
Hasam Attaeb macht klar: Seine Kalaschnikow steht nicht nur für Freudeschüsse bereit. Der 22-Jährige hat in der örtlichen Miliz gegen die Gaddafi-Truppen gekämpft - und sein Gewehr nicht mehr abgegeben. Die Milizionäre sind noch immer schwer bewaffnet. Und der 22-Jährige macht nicht den Eindruck, dass sich das schnell ändert. "Ich werde weitermachen, bis wir völligen Frieden in Libyen haben", sagt er.
In wenigen Tagen wird er ausrücken. In den Süden, heißt es verschwommen. Mehr will er nicht sagen. Außer, dass er sich endlich einen festen Job wünscht, mit dem er eine Familie ernähren kann: "Das erwarte ich vom freien und neuen Libyen." Als die Revolution ausbrach, waren 30 Prozent der jungen Menschen arbeitslos. Verbessert hat sich nichts, klagen heute viele junge Ex-Revolutionäre.
Alles Männer mit Waffen in der Hand.
Die Libyen-Bilder von Till Mayer sind bis zum 21. Dezember im Rahmen der Ausstellung "Für eine minenfreie Welt - 20 Jahre Kampagne zur Ächtung von Landminen" im Lichthof des Auswärtigen Amts , Werderscher Markt 1, 10117 Berlin, zu sehen.