Libyen-Konflikt Gaddafis Heimatstadt im Visier der Rebellen

Rebellen in Libyen: Erstaunlich schneller Aufmarsch
Foto: FINBARR O'REILLY/ REUTERSDie Angriffe sind von einer neuen Qualität. Die von den USA, Frankreich und Großbritannien angeführte internationale Koalition hat am späten Sonntagabend erstmals militärische Ziele in Sirte bombardiert. Sirte sei in der Hand der Rebellen, sagte ein Sprecher am Montag.
Ob die Rebellen die Heimatstadt von Gaddafi tatsächlich bereits eingenommen haben, blieb am Vormittag noch unklar. Mehrere Kommandeure der Einheiten berichteten SPIEGEL ONLINE per Telefon, dass sie bis zu den äußeren Toren der Stadt vorgedrungen seien und nun ihre Truppen positionierten. Bisher gab es demnach noch kein Aufeinandertreffen mit den Einheiten des Machthabers Gaddafi, doch die Lage könne sich jederzeit ändern. Am Sonntagabend hatte ein prominentes Mitglied der Widerstandsbewegung gesagt, Sirte werde erst am Dienstag angegriffen.
In Bengasi feierten die Rebellen trotzdem bereits das Erreichen der symbolisch und strategisch wichtigen Stadt. Gegen fünf Uhr morgens fuhren Kolonnen der Kämpfer durch die Stadt und schossen über eine halbe Stunde Salven aus teilweise schweren Waffen in die Luft, an mehreren Kreuzungen feuerten auch Luftabwehrgeschütze.
Zuvor hatten die Rebellen bei ihrem Kampf gegen den verhassten Diktator Muammar al-Gaddafi ohne größeren Widerstand Hunderte Kilometer bis Ben Jawad, einem der wichtigsten Ölstandorte des Wüstenstaats, vormarschieren können.
Sirte, rund 200 Kilometer weiter westlich an der Mittelmeerküste gelegen, ist der Geburtsort Gaddafis. Die Stadt gilt als Hochburg des Despoten, aber auch strategisch als eine der letzten Bastionen des angeschlagenen Machthabers gegen einen Vormarsch der Rebellen auf die Hauptstadt Tripolis.
Mit den Bombardements in Sirte geht das internationale Engagement in eine neue Phase über. In der Stadt gab es bisher keine Auseinandersetzungen zwischen Rebellen und Gaddafi-Einheiten oder auch nur politischen Protest. Dass die Koalition den Rebellen, weiterhin eine zusammengewürfelte Guerilla-Truppe ohne politische Führung, den Weg gen Westen quasi freischießt, markiert eine neue Qualität der Mission.
Westen unterstützt aktiv Gaddafis Sturz
Bislang hatten die Alliierten die Gaddafi-Einheiten beschossen, um Angriffe des Regimes auf die Zivilbevölkerung zu unterbinden - und sich damit weitgehend an die Uno-Resolution 1973 gehalten. Jetzt entwickelt sich der Kampfeinsatz des Westens immer mehr zur aktiven Unterstützung der Rebellen, um Gaddafi zu stürzen. Ohne die Angriffe, das gestehen die Regimegegner offen ein, wäre die Rückeroberung der bisherigen Gebiete nicht möglich gewesen.
Bereits vor dem Bombardement hatten die Rebellen den Vormarsch auf Sirte angekündigt. Ein prominentes Mitglied der politischen Bewegung sagte SPIEGEL ONLINE am Sonntagabend, die Kämpfer hätten bei ihrem Vorstoß nach Ben Dschawad - bis dort waren die Rebellen bereits bei den vorherigen Kämpfen gekommen - weitere von den fliehenden Gaddafi-Truppen zurückgelassene schwere Waffen wie Panzer, mehrere Haubitzen und Raketenwerfer erbeutet. Dutzende Gefangene, darunter afrikanische Söldner, seien nach Bengasi gebracht worden.
Auf der Straße in Richtung Bengasi waren am Nachmittag immer wieder Sattelschlepper mit leicht beschädigten Panzern zu sehen, die nun in der Hafenmetropole repariert werden sollen.
Rebellen stoßen auf immer weniger Widerstand
Der Nachschub an neuen Kämpfern gegen das Regime reißt nicht ab. In Turbo-Trainingslagern in der Stadt geschult, hasten immer mehr Männer zur Front. Viele von ihnen sind noch Teenager. Inzwischen dürfte die Armee des Widerstands, die nun immer weiter nach Westlibyen vorrückt und auf immer weniger Widerstand trifft, mehrere tausend Kämpfer zählen.
Der Vormarsch der Rebellen, die immer besser koordiniert zu sein scheinen und durch die Kampferfahrung der vergangenen Wochen auch immer strategischer vorgehen, hatte am Wochenende durch die gezielten Luftangriffe überraschend an Tempo gewonnen. Immer deutlicher wird, dass es zumindest eine grobe Abstimmung zwischen der sogenannten "Koalition der Willigen", den westlichen Alliierten, und der Militärführung der Rebellen gibt.
Bereits beim Einmarsch in Adschdabija am Samstag ahnten die Rebellenkommandeure am Boden, wann die Kampfjets die letzten Stellungen der Gaddafi-Einheiten angreifen würden. Nur Minuten nach den Luftschlägen rückten sie mit ihren Jeeps in die Stadt ein, die tagelang von der Regime-Armee eingekreist war.
Lage in Misurata unübersichtlich
Rund eine Woche nach dem Start der Luftangriffe steht Muammar al-Gaddafi geschwächter denn je da. Mit Ras Lanuf und Brega haben die Rebellen die beiden wichtigsten Ölproduktionsstätten an der Mittelmeerküste unter ihre Kontrolle gebracht. In Sirte stehen die Aufständischen mitten in Westlibyen, dem bisherigen Stammgebiet des brutalen Machthabers. Von Sirte sind es noch rund 500 Kilometer bis Tripolis, wo dann ein blutiger Entscheidungskampf um die Zukunft Libyens drohen würde.
Es gibt Anzeichen, dass Gaddafi sich in Tripolis verschanzt. Aus Misurata, etwa auf halber Strecke zwischen Sirte und Tripolis, sollen sich laut der Nachrichtenagentur Reuters große Armeetrucks in Richtung Hauptstadt aufgemacht haben. In der Stadt wird erbittert gekämpft. In der Nähe bombardierte die Koalition am Sonntag ein riesiges Munitionsdepot der Gaddafi-Armee. Beide Seiten behaupten, die Kontrolle über Misurata zu haben, eine Bewertung der Lage ist kaum möglich.
Die Unterstützung der Rebellen durch die Alliierten dürfte in den kommenden Tagen für Diskussionen sorgen. Am Sonntag beschloss die Nato offiziell, das Kommando über den kompletten Kampfeinsatz zu übernehmen. Zunächst hatte die Militärallianz, die für ihre langen Entscheidungsprozesse bekannt ist, die Sicherung der Flugverbotszone und anschließend auch die militärische Durchsetzung der Uno-Resolution zum Schutz der Zivilisten geleitet.
In der Nato dürfte die aktive Unterstützung der bisher schwer einzuschätzenden Rebellen schwieriger durchzusetzen sein als in der Koalition von Frankreich, den USA und Großbritannien. Den Rebellen ist das ziemlich egal. Neben ihrer allgegenwärtigen Fahne des neuen Libyens sieht man auf den Jeeps mit den vermummten Kämpfern immer häufiger auch die französische Trikolore. Nicolas Sarkozy, das sagen die Kämpfer gern und laut, sei ihre einziger echter Freund im Ausland.