Bürgerkrieg Libysche Milizen setzen Vergewaltigung von Männern als Kriegswaffe ein

Im libyschen Bürgerkrieg setzen Milizen gezielt Vergewaltigungen ein. Erstmals brechen Zeugen ihr Schweigen. Ermittler wollen die Täter vor Gericht stellen. Doch ihre Arbeit ist mühsam und riskant.
Von Cécile Allegra
Vergewaltigungsopfer Yasine

Vergewaltigungsopfer Yasine

Foto: Thomas Brémond/ Arte

Dieser Text ist Teil einer Kooperation von sechs europäischen Medienhäusern, die den Fokus auf das Flüchtlingsdrama im Mittelmeerraum und in Afrika richtet. Mehr zur Zusammenarbeit von "Politiken" (Dänemark), "La Stampa" (Italien), "Le Monde" (Frankreich), "El País" (Spanien), "The Guardian" (Großbritannien) und DER SPIEGEL lesen Sie hier.


Seitdem Diktator Muammar al-Gaddafi in Libyen gestürzt wurde, versinkt das Land im Chaos. Die Bevölkerung ist seitdem Milizen ausgeliefert, die Menschen entführen, sexuell misshandeln, töten.

Bisher konnten internationalen Organisationen wie die Uno nicht nachweisen, dass systematische Vergewaltigungen seit dem Ende des Gaddafi-Regimes im Jahr 2011 eingesetzt werden. Eine kleine Gruppe libyscher Ermittler, Staatsanwälte und ehemaliger Richter will das ändern: Sie dokumentiert heimlich von Tunesien aus die schrecklichen Vergehen. Mithilfe von gesammelten Zeugenaussagen decken sie ein System organisierter Vergewaltigungen auf, das sich hauptsächlich gegen Männer richtet.

Die französische Journalistin Cécile Allegra hat die Gruppe bei ihrer komplizierten und gefährlichen Arbeit begleitet. Entstanden ist eine Chronologie ihrer Ermittlungen.

November 2016

In einem Büro in Tunesien schauen sich Ex-Staatsanwalt Ramadan und sein Freund, der Aktivist Imed, Beweismaterialien an. In einem Video ist ein junger Mann zu sehen, er sitzt zitternd im Sand. Den Kopf hat er gesenkt. Ein Uniformierter, von dem man nur den Arm sieht, hebt den Mann hoch, zieht ihm erst die Hose, dann die Unterhose aus und nähert sich seinem Po mit einer Panzerfaust. Die Kamera dreht sich weg, Ex-Staatsanwalt Ramadan dreht sich weg. "Mach das aus, das ist sadistisch!"

Weitere Videos folgen, eins grausamer als das andere. Seit fast drei Jahren recherchieren Imed und Ramadan zu den Gewaltexzessen in ihrem Land. Seit dem Ende der Revolution 2011 gehören Entführung, Erpressung, Folter und das ungeklärte Verschwinden von Personen zu ihrem Alltag. Genau wie die Vergewaltigungen, die überall im Land in Gefängniszellen geschehen.

Doch sie benötigen mehr Belege - und Zeugen, die öffentlich aussagen. Aber seit drei Jahren stoßen die Ermittler auf eine Mauer des Schweigens. Und wenn doch einmal Folterüberlebende aussagen, ziehen sie ihre Aussagen später zurück. Denn Vergewaltigungen sind ein Tabuthema in der libyschen Gesellschaft. Ihre Suche nach gerichtsfesten Beweisen beginnt.

Februar 2017

Die Tür öffnet sich und Ahmed tritt ein. Der 45-Jährige sieht aus wie ein Gespenst: Er wurde von 2012 bis 2016 im Gefängnis im Ort Tomina festgehalten. Seine Schilderungen sind erschütternd: "Sie nehmen einen Besen und befestigen ihn an der Wand. Wenn du essen willst, musst du deine Hose ausziehen, den Besen von hinten in dich eindringen lassen und solange weitermachen, bis der Wärter Blut fließen sieht. Niemand kann sich dem entziehen."

Ahmed berichtet, dass die Wärter gezielt schwarzafrikanische Migranten in die Zellen sperrten. Sie hätten die Afrikaner gezwungen, libysche Häftlinge zu vergewaltigen. Wer sich widersetzte, wurde getötet. Das Libyen der Post-Gaddafi-Zeit hat ein Monster geboren, in dem Männer Ziel systematischer Vergewaltigung geworden sind und Migranten als körperliche Instrumente dieser Rache missbraucht werden.

Ahmeds Aussagen sind für die beiden Ermittler ein erster Durchbruch. Dann meldet sich ein zweiter Zeuge, der Misshandlungen in einem anderen Gefängnis schildert: Folter mit einer Flasche mit gezacktem Verschluss, auf die das Opfer sich setzen muss und die der Peiniger mit einem heftigen Ruck herauszieht. Folter mit einem Rad, welches die Hände und Füße des Gefangenen fixiert, während ihm Panzerfäuste unterschiedlicher Größe in den Anus eingeführt werden.

Mit den übereinstimmenden Schilderungen der Zeugen und einem medizinischen Protokoll, das erstellt wird, haben die Ermittler nun Indizien für die Existenz eines grauenhaften Systems. Doch Ramadan und Imed müssen und wollen noch mehr herausfinden - ihnen bleibt keine andere Wahl, als selbst nach Libyen zu fahren. Es ist eine Reise, die viele Gefahren birgt, das weiß auch Imed: "Wenn mich die Miliz fasst, werden sie mich vergewaltigen, damit ich für immer schweige." Er tritt die Fahrt dennoch an.

Mai 2017

Ein Gebäude irgendwo südlich von Tripoli: Imed trifft auf eine kleine Gruppe von Aktivisten. Sie führen Buch über Entführungen, Inhaftierungen und das Verschwinden von Männern. Ihr Anführer öffnet einen Schrank. In diesem befinden sich 650 Akten in alphabetischer Reihenfolge. Ein großer Teil von ihnen beschreibt die Vergewaltigung von Männern.

Imed muss die neuen Daten, Orte und Namen überprüfen. Die meisten Fälle betreffen die Tawurganer, ein libyscher Stamm, zu dem auch Imed gehört. Es sind Nachkommen von Sklaven, die verachtet werden, weil sie schwarz sind. Ihnen wird vorgeworfen, Gaddafi unterstützt zu haben und in zahlreiche Vergewaltigungen in Misurata involviert gewesen zu sein. Ihre Stadt Tawurga wurde zerstört und die 35.000 Einwohner flüchteten in Lager nach Bengasi und Tripoli.

Eines dieser Lager ist Fallah im Süden der Hauptstadt. Hier trifft Imed den Ex-Häftling Ali, der gerade aus Tomina entlassen wurde. Ali ist 39, sieht aber gut 30 Jahre älter aus und kann sich nur mit Hilfe eines Gehstocks fortbewegen. Er sei unzählige Male vergewaltigt worden, berichtet er. Jetzt hat er schwere gesundheitliche Probleme. "Ausfluss", sagt er.

Juni 2017

Zurück in Tunis: Imed und Ramadan haben durch ihre Reise nun weitere 650 Dossiers in ihren Händen, die Zeugnis über Vergewaltigungen in Gefängnissen im Westen des Landes ablegen - und darüber, dass gezielt Jagd auf die Tawurganer gemacht wird. Imed schätzt, dass zwischen 3000 und 5000 Mitglieder des Stammes misshandelt und getötet wurden. Möglicherweise ist dieses Verbrechen als Genozid zu bewerten.

Doch bis die Justiz reagiert, dauert es. Zwar hat die Staatsanwältin Fatou Bensouda vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) im Herbst 2016 einen Antrag an den Uno-Sicherheitsrat eingereicht, um mehr Geld für die Ermittlungen zu bekommen. Doch diese zu eröffnen, bedeutet einen riesigen Kraftakt: Fakten müssen rekonstruiert, die Verantwortlichen ermittelt werden. Und mit welchen Fällen soll man anfangen?

August 2017

Während das Netzwerk in Tunis weiter an seiner Ermittlungsakte arbeitet, stellt der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Kommandanten Mahmoud Al-Werfalli aus, dem Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.

Al-Werfalli ist der Anführer der Al-Saiqa Brigade und ein Verbündeter von General Khalifa Haftar, der seit Jahren den Osten Libyens kontrolliert. Zum ersten Mal werden Videos aus dem Internet als Beweismaterial vor dem IStGH zugelassen. Sie zeigen Hinrichtungen die von Al-Werfalli ausgeführt wurden. Damit stellt sich indirekt auch die Frage der möglichen Verwicklung von General Haftar.

Den Ermittlern in Tunis macht das neuen Mut. Sie wissen nun, dass die von ihnen gefundenen Videos rechtliche Gültigkeit besitzen. Das könnte weitere Opfer aus den geheimen Gefängnissen Libyens dazu bewegen, eine Aussage zu machen.

Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, womöglich ein Genozid an einem Teil der schwarzen Bevölkerung. Die Ermittlungen sind noch lange nicht abgeschlossen.

Ramadan und Imed bereiten gemeinsam mit einer Anwältin nun einen Bericht vor, mit dem die Gräueltaten seit 2011 offengelegt werden sollen.

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