Litauens Präsidentin im Interview "Die junge Generation ist bereit, unser Land zu verteidigen"

In Litauen schürt die Nähe zu Russland Ängste: "Die Gefahr eines Einmarsches ist groß, wenn wir nicht abwehrbereit sind", sagt Präsidentin Dalia Grybauskaite - und warnt Europa, sich von Russlands Gas abhängig zu machen.
Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite

Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite

Foto: Francois Lenoir/ REUTERS

Seit 2009 ist Dalia Grybauskaite Präsidentin von Litauen und die erste Frau in diesem Amt. Die Wirtschaftswissenschaftlerin war erst Finanzministerin, dann EU-Kommissarin für Finanzen und Haushalt. Sie ist in Brüssel gut vernetzt.

Ihre unmissverständlich ablehnende Haltung gegenüber der russischen Regierung hat Grybauskaite viel Ärger eingebracht. Sie verglich Präsident Putins aggressive Politik mit der Stalins und Hitlers und wurde nicht müde, Europa vor dem Expansionsdrang ihres Nachbarn zu warnen. Erst mit Moskaus Annexion der Krim im Jahr 2014 hören ihr die Strategen in Brüssel verstärkt zu.

Gerade fanden im Baltikum die Nato-Manöver "Saber Strike" und "Baltops" statt. Wie groß ist die Gefahr einer russischen Intervention in Litauen? Sind die europäischen Staaten im Verhältnis zu Russland naiv? Grybauskaite hält Putin für unberechenbar - und für Europa eine Warnung bereit.

SPIEGEL ONLINE: Nur acht von 193 Staatsoberhäuptern weltweit sind weiblich. Was muss eine Frau mitbringen, um Präsidentin zu werden?

Grybauskaite: Schwer zu sagen. Es gibt Kolleginnen, die schon als Kind davon geträumt haben, ganz oben in der Politik mitzumischen. Bei mir war das nicht so. Ich habe meinen Job aus Pflichtgefühl übernommen. Das war 2009, in der Finanzkrise. Ich war EU-Kommissarin für Finanzen und Haushalt und wollte meiner Regierung helfen, die Krise zu bewältigen.

SPIEGEL ONLINE: Sind Sie dabei auf Widerstand gestoßen, weil Sie eine Frau sind?

Grybauskaite: Ich habe Widerstand erfahren, aber nicht wegen meines Geschlechts, sondern aufgrund meiner unkonventionellen Art, Politik zu machen. Ich war parteilos, die wirtschaftliche Situation so schwierig, dass ich alle politischen Kräfte herausgefordert habe. Das erforderte Mut. Ich habe versucht, mit gutem Beispiel voranzugehen, und für drei Jahre auf die Hälfte meines Gehalts verzichtet.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben auch versucht, die Korruption einzudämmen. Auf dem Index von Transparency International konnte sich Litauen seit 2009 um 14 Ränge verbessern und liegt in Europa im Mittelfeld. Allerdings stagniert die Entwicklung seit drei Jahren.

Grybauskaite: Es hat länger gedauert, als ich gehofft hatte. Ich habe seit meinem Amtsantritt 29 Anti-Korruptions-Gesetze eingebracht, die alle vom Parlament angenommen und umgesetzt wurden. Seitdem kann bei uns kriminell erwirtschaftetes Vermögen konfisziert werden. Wir haben außerdem die OECD-Konvention gegen die Bestechung ausländischer Amtsträger ratifiziert, was mir ein großes Anliegen war.

SPIEGEL ONLINE: Der aktuelle Korruptionsskandal um den litauischen Mischkonzern MG Baltic zeigt, dass die Kontrollmechanismen nicht ausreichend greifen.

Grybauskaite: Das stimmt. Wir sagen: Wenn du einen Drachen tötest, steigt der nächste auf. Aber wenigstens haben wir uns dem Drachen genähert.

SPIEGEL ONLINE: MG Baltic soll den inzwischen zurückgetretenen Chef der Partei "Liberale Bewegung", Eligijus Masiulis, bestochen haben. In dem Zusammenhang wurden E-Mails öffentlich, die Sie zwischen 2014 und 2016 mit Masiulis ausgetauscht haben. Darin sollen Sie versucht haben, in MG-Baltic-Medienunternehmen eine positive Berichterstattung über Ihren Kandidaten für den Posten des Generalstaatsanwaltes durchzudrücken. Es gab Rücktrittsforderungen.

Grybauskaite: Der Fall MG Baltic wird derzeit vor Gericht verhandelt - es ist der größte Fall politischer Korruption in der Geschichte Litauens. Er hat gezeigt, wie Unternehmen versucht haben, nicht nur einzelne Politiker zu beeinflussen, sondern das politische System an sich. Wenig überraschend nutzen die Angeklagten vor Gericht jedes Mittel, um Verantwortung von sich zu weisen - dazu gehört auch der Versuch, den Fall zu politisieren. Aber die Gerichte und die Strafverfolgungsbehörden in Litauen sind professionell, unabhängig und in der Lage, dem Druck zu widerstehen. Wir werden sehen, wie der Prozess ausgeht. Aber, was die Transparenz und den Imageschaden angeht, kann er schon jetzt als abschreckend für andere Politiker und Unternehmen gelten. Egal, wie die Urteile in den kommenden Prozessen ausfallen werden - die Botschaft ist ausgesandt. Wir arbeiten gleichzeitig an der Erweiterung der geltenden Anti-Korruptions-Gesetze. Geplant ist, die Konfiszierung von illegal erworbenem Vermögen zu erleichtern, ähnlich wie in Großbritannien.

SPIEGEL ONLINE: Zu einer anderen Bedrohung: Mit dem US-geführten Manöver "Saber Strike" wurde gerade die Abwehr russischer Streitkräfte geprobt. Wie lief die Übung?

Grybauskaite: Es gibt Abläufe innerhalb der Nato, die optimiert werden müssen. Wir sind 28 Länder mit unterschiedlichen Befehlsketten und Entscheidungsprozessen. Wir lernen permanent, wie wir besser zusammenarbeiten und Prozesse angleichen können. Im Verteidigungsfall haben wir in der Nato 30 Tage Zeit für eine formale Entscheidung - das ist zu lang, denn gegebenenfalls müssen wir innerhalb weniger Stunden reagieren.

SPIEGEL ONLINE: Fühlen Sie sich militärisch ausreichend geschützt?

Grybauskaite: Ich bin vor allem zuversichtlich, was unser Volk betrifft. Die junge Generation ist bereit, ihr Land zu verteidigen. Wir haben den großen Fehler begangen, dies nicht schon 1940 getan zu haben, als die Rote Armee in Litauen einmarschierte und es besetzte. Es ist in einem Genozid geendet. Wir haben fast 15 Prozent unserer Bevölkerung verloren, große Teile wurden in sowjetische Arbeitslager deportiert. Wir hätten kämpfen sollen. Wir werden diesen Fehler nicht noch einmal begehen.

SPIEGEL ONLINE: US-Präsident Trump hat Deutschland für seine angeblich zu geringen Militärausgaben gerügt. Wie steht Litauen da?

Grybauskaite: Wir investieren bereits zwei Prozent des BIP in die Verteidigung und modernisieren unsere Armee kontinuierlich. Wir kaufen Ausrüstung in Deutschland, gepanzerte Transportfahrzeuge und Haubitzen, aber auch in den USA und Israel. Die gemeinsamen Militärübungen sind für uns aber am wichtigsten. Ich war auf See beim multinationalen Ostsee-Manöver "Baltops" Anfang Juni. Es findet seit 1971 jedes Jahr statt. Dieses Mal haben 22 Länder teilgenommen, außerdem Nicht-Nato-Staaten wie Finnland und Schweden. Das bedeutet, dass die Ostseeanliegerstaaten die Bedrohung verstanden haben.

SPIEGEL ONLINE: Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass Russland in Litauen einmarschiert?

Grybauskaite: Die Gefahr ist groß, wenn wir nicht dauerhaft abwehrbereit sind. Wenn wir zeigen, dass wir uns verteidigen können und wollen, dann wird uns niemand angreifen. Wir müssen bereit sein: mental, politisch, technologisch, mit Herz und Seele. Die russischen Truppen an den Grenzen zum Baltikum und Polen sind zehnmal so stark wie die der Nato. Aber es geht um mehr als Zahlen. Es geht um die Verpflichtung und den Willen, sich zu verteidigen. Wenn unser Volk und unsere Partner das mittragen, gibt es keinen Grund, uns zu besetzen.

SPIEGEL ONLINE: Was tut Litauen gegen nichtmilitärische Bedrohungen wie Wahlmanipulationen, Cyberangriffe oder Propaganda?

Grybauskaite: Unsere Bevölkerung hat sich als sehr resistent gegen Manipulationen von außen gezeigt. Wir haben zum Beispiel eine Gruppe sehr aktiver Blogger, die sich ausschließlich um die Demaskierung von Fake News kümmert. Zivilgesellschaft und Behörden kooperieren sehr erfolgreich, wenn es darum geht, Falschmeldungen zu enttarnen. Innerhalb der EU arbeiten wir am Aufbau einer gemeinsamen schnellen Eingreiftruppe, die Cyberangriffe aufdecken und koordiniert bekämpfen soll.

SPIEGEL ONLINE: Sind die westlichen Länder naiv, wenn es um die Einschätzung Russlands geht?

Grybauskaite: Ja, immer noch. Erst wenn sie selbst angegriffen werden und merken, dass Russland sich in ihre Belange einmischt, sie ausspioniert oder ihre Wahlen manipuliert, werden sie wach. Wir wissen nicht erst seit der Annexion der Krim, dass wir Russland nicht trauen können. Putin sagt das eine und tut das andere.

SPIEGEL ONLINE: Dennoch hat nach Deutschland und Finnland jetzt auch Schweden grünes Licht für den Bau der umstrittenen Ostseepipeline Nord Stream 2 gegeben.

Grybauskaite: Wir alle müssen wirtschaftlich kooperieren und im Dialog mit anderen Staaten bleiben. Aber wer sich abhängig macht von Energielieferungen eines Landes, macht sich auch politisch angreifbar. Litauen war zu 100 Prozent abhängig von russischen Gaslieferungen. Damals haben wir 30 Prozent mehr bezahlt als Deutschland - weil wir uns politisch in Richtung Europa orientiert haben. 2015 haben wir ein Flüssiggas-Terminal gebaut, um uns unabhängig zu machen. Die Russen haben den Gaspreis sofort gesenkt. Energie und Politik sind nie getrennt. Wenn Europa sich mit Nord Stream 2 abhängig macht von Russland, gibt es Putin ein sehr effizientes Instrument an die Hand, um seine Politik zu korrumpieren.

SPIEGEL ONLINE: Halten Sie es für weniger bedenklich, mit Fracking gefördertes Flüssiggas aus den USA zu beziehen?

Grybauskaite: Die Europäische Union muss die Diversifizierung der Energieversorgung sicherstellen. Flüssiggasimporte aus den USA helfen, dieses Ziel zu erreichen.

SPIEGEL ONLINE: Wie zuverlässig können die USA in Zeiten des drohenden Handelskrieges als Geschäftspartner überhaupt sein?

Grybauskaite: Die Zukunft wird zeigen, ob aus rhetorischen Kriegen tatsächlich auch Handelskriege werden.

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