Logbuch al-Qaida Tausend Tage Terror

Vor genau 1000 Tagen rief das Terrornetzwerk al-Qaida den "Islamischen Staat Irak" aus, Kabinett und Kriegsminister inklusive: Eine clevere Propaganda-Idee, die bei den Sympathisanten verfängt - auch wenn bis heute niemand weiß, wer das Phantasiegebilde anführt.
Von Yassin Musharbash

Als die Taliban eine kritische Masse an Macht und Gebiet gewonnen hatten, gründeten sie ein Staatswesen. Es war sogar leidlich stabil, gestürzt wurden die Taliban erst durch den Nato-Einmarsch nach 9/11. Wenig spricht dagegen, dass sie heute noch an der Macht wären, wenn dieser Krieg ausgeblieben wäre.

Doch das war in Afghanistan. Im Irak führte al-Qaida nach dem US-Einmarsch zwar Hunderte, zum Teil äußerst spektakuläre und brutale Anschläge durch. Zeitweise hatten die Terroristen des Bin-Laden-Netzwerks auch die Kontrolle über bestimmte Städte oder Stadtteile inne. Aber zu keinem Zeitpunkt hatten sie eine ähnlich reale Macht wie die Taliban am Hindukusch.

Der "Islamische Staat Irak", den al-Qaida Ende 2006 ausrief, war nie mehr als eine Behauptung - auch wenn die Dschihadisten ein Kabinett, einen Staatschef und einen obersten Kriegsherrn ernannten.

Bombastnamen und ungelöste Rätsel

Doch als Propaganda-Coup funktionierte die Staatsproklamation. Fast alle militanten islamistischen Bewegungen haben einen Drang zur Gründung autonomer staatsähnlicher Einheiten, weil für sie selbst die formale Unterordnung unter eine "ungläubige" Staatsmacht Sünde ist. Ihre Sympathisanten schätzen solche Schritte daher. Im Falle Iraks waren zum Beispiel einige ausländische Kämpfer erst nach der Ausrufung eines Staates bereit, sich dorthin auf den Weg zu machen. Allerdings gab es auch Widerspruch gegen die Staatsgründung, die Debatte ist bis heute nicht abgebrochen.

Wichtig war aber auch, dass die Proklamation Beständigkeit und Macht suggerierte. Und schließlich half sie der von dem Jordanier Abu Musab al-Sarkawi gegründeten Irak-Filiale, sich irakischer zu geben als sie war: Die Staatsausrufung sollte widerlegen, dass es den zahlreichen aus arabischen Nachbarländern eingesickerten Kämpfern in Wahrheit nur ums Kämpfen und nicht um den Irak ging.

Letzterer Gedanke dürfte auch dazu geführt haben, dass der Anführer des Staates mit dem Bombastnamen Abu Omar al-Baghdadi al-Kuraschi versehen wurde: Es sollte so aussehen, als sei der Mann, den in Wahrheit keiner kennt, nicht nur Iraker aus Bagdad, sondern auch noch ein Mitglied des Stammes der Kuraisch, aus dem auch der Prophet Mohammed stammte. Der klassischen islamischen Lehre zufolge kann Kalif, also Anführer aller Gläubigen, nur ein Kuraischit werden.

Streit aufs Blut mit anderen Terrorgruppen

Unter den Dschihadisten in der arabischen Welt verfing das, der "Islamische Staat Irak" gewann an Renommee. Dessen Propagandisten waren sich aber auch wirklich keiner Suggestion zu schade. Mal ließen sie den Anführer darüber schwadronieren, dass sie nunmehr in der Lage seien, Raketen in Serie zu produzieren. Mal führten sie eine Art Terrorplanwirtschaft ein und verordneten jedem Kämpfer, dass er "bis Januar drei Bomben" zu legen habe. Mal drohten sie mit nuklearer Aufrüstung der Mudschahidin.

Kontraproduktiv war freilich, dass al-Qaidas Versuch fehlschlug, die anderen dschihadistischen Terrorgruppen im Irak unter diesem Dach zu vereinen. Einige zogen mit, aber andere setzten sich zur Wehr - was sie nicht zuletzt damit begründeten, dass sie nicht wüssten, wer eigentlich die Männer hinter den blumigen Namen waren. Das wiederum offenbarte al-Qaida nicht, womöglich aus Sicherheitsgründen. Dschihadisten bekämpften sich, es gab zahlreiche Tote.

Bis heute ist das Rätsel der Identitäten unterdessen ungelöst. Und weil al-Qaida nie Details über ihre Chef-Kader preisgegeben hat, ist es in den 1000 Tagen seit der Gründung mehrfach zu verwirrenden Nachrichtenlagen gekommen: Immer schön abwechselnd waren der Staatschef und der Kriegsminister mal tot, mal in Haft, mal identifiziert - und stets meldeten sie sich kurz darauf wieder mit Propagandabotschaften zu Wort.

Selbst einige seriöse Terrorexperten gehen angesichts dieses Chaos längst davon aus, dass die Namen, hinter denen al-Qaida im Irak sich versteckt, Sammelidentitäten sind - und keine natürlichen Personen bezeichnen.

Aufstieg und Fall einer Qaida-Filiale

Nicht unbemerkt blieb derweil, dass al-Qaida im Irak heute längst nicht mehr so schlagkräftig ist wie noch in den Schreckensjahren 2005/06. Allerdings ist das Terrornetzwerk noch nicht besiegt, und der fortschreitende Abzug der US-Armee wird den Terroristen wahrscheinlich wieder neue Freiräume öffnen, um ihre Bomben zu legen oder Selbstmordattentäter auszuschicken.

Dennoch ist der Irak nie zu der Plattform für den internationalen Dschihad geworden, die Sarkawi noch im Sinn gehabt hatte. Er hatte im Irak einen Bürgerkrieg auslösen wollen, um in dem dadurch ausgelösten Chaos gefahrlos ein eigenes internationales Netzwerk aufzubauen, von dem aus er Jordanien, Syrien und Israel attackieren wollte. Der Plan mit dem Bürgerkrieg ging beinahe auf - denn Sarkawi ließ seine Leute Schiiten ermorden, die ihrerseits zurückschlugen. Doch der erträumte "safe haven" für Terroristen wurde der Irak nicht.

Heute gibt es dafür längst zwei andere heiße Kandidaten: Somalia und den Jemen. Somalia ist ein "failed state", der Jemen steht auf der Kippe. Militante Dschihadisten können in beiden Ländern fast so frei walten wie sie wollen. In Somalia ist es besonders dramatisch, denn die Restregierung steht vor dem Fall: Es könnte dort also mittelfristig zu einer weiteren Proklamation eines dschihadistischen Staatswesens kommen.

Abu Omar al-Baghdadi, der Chef des Islamischen Staates Irak, feierte das 1000-Tage-Bestehen indes auf seine Weise: mit einer neuen Tonbotschaft. Wie üblich gibt sie inhaltlich allerdings nichts her.

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