
Libysche Rebellenhochburg Bengasi: Die verlorene Stadt
Machtkampf in Libyen Die letzten Tage von Bengasi
Östlich von Adschdabija sollen die Truppen Gaddafis stehen, es sind nur noch 150 Kilometer bis Bengasi. Die Einwohner haben ein Ultimatum erhalten. Sie sollen sich von den Munitionsdepots fernhalten, jetzt werde die Stadt bald von den Aufständischen gesäubert, verbreitet das staatliche Fernsehen. Alle, die gehen wollten, sind schon gegangen. Salwa Bugaighis nicht. Die Anwältin, die von der ersten Stunde der Revolution an dabei war, spuckt ihre Wut aus gegen den Westen, der doch Vorbild war, der so hohe Werte hat - bloß nicht jetzt, wenn man diese Werte mal gebrauchen könnte.
"Worauf habt ihr gewartet?", fragt Salwa. "Wolltet ihr wissen, wer der Stärkere ist? Gaddafi oder wir? Alle hier glaubten an das, was ihr erzählt, an Freiheit und an die Rechte der Menschen. Aber das war eine Lüge. Wir haben euch um Hilfe gebeten. Ihr habt uns nicht geholfen. Wirklich... wirklich, wir sind..."
Das Wort "fertig" muss sie nicht mehr aussprechen.
Und dann sagt sie noch leise, mitten im Zentrum der Stadt, vor dem Gericht: "Wir werden Gaddafi nicht erlauben, uns noch einmal zu regieren. Vielleicht tötet er uns alle, dann kann er unsere Gräber regieren." Eine Frau daneben fängt an zu weinen. Ein "New York Times"-Reporter notiert sich das. Ein Fotograf bedrängt Salwa, ob er nicht Zugang zur Front bekommen kann, sonst sei er weg. Ja, sie werde sich darum kümmern. Sie winkt ein Auto herbei, steigt ein und fährt davon. Am Abend gibt es eine Pressekonferenz, vielleicht die letzte, am nächsten Tag werden nur noch E-Mails verschickt.
Bei der Konferenz geht es um Adschdabija, die umkämpfte Stadt südlich von Bengasi. Alles sei unter Kontrolle, heißt es. Mal wieder. Es ist wahrscheinlich der letzte Satz, bevor die Bomben in Bengasi einschlagen: Alles ist unter Kontrolle. Ein Journalist ruft in den Raum: "Ihr habt die Situation nicht mehr unter Kontrolle, es ist zu gefährlich hier, morgen wird die internationale Presse weg sein." Es ist Jon Lee Anderson vom "New Yorker", ein erfahrener Kriegsreporter, viele hören auf das, was er sagt. Am nächsten Tag sind die meisten Journalisten weg. Jon Lee Anderson nicht.
"Man weiß nicht, wer einen zuerst erwischt"
"Er hat uns hereingelegt", schimpft ein Reporter, der nach Tobruk geflüchtet ist. "Er hat uns Angst gemacht, damit wir abhauen und er der Letzte ist, der aufschreiben kann, wie Gaddafis Leute die Stadt überrennen." Jon Lee Anderson hat ein Buch über Afghanistan geschrieben, eines über Guerillakämpfer und eines über den Fall Bagdads im Irak-Krieg. Bengasi ist eine Bühne für ihn, hat er einmal erzählt, und er schaue sich das Theater an.
Die Eingangstür zu seinem Hotel haben sie zum ersten Mal abgeschlossen seit Beginn der Revolution. Man bekommt jetzt die besten Zimmer, aber bezahlen muss man nun im Voraus. Das Hotelrestaurant ist leer. Nur der Sohn des Kellners lässt sich die Reste vom Buffet bringen. Anderson hat die Vorhänge zugezogen, sein Rucksack ist gepackt, er steht neben der Tür. BBC World News läuft, sein Satellitentelefon ist an. "Wollen Sie hierbleiben, Mr. Anderson? Warten, bis Gaddafi die Stadt einnimmt? Den Machtwechsel beschreiben?" Er lehnt sich zurück in seinem Stuhl, überlegt, wie er die Antwort formulieren soll. "Die Idee ist reizvoll", sagt er, "aber nein, das würde ich nicht machen. Man weiß nicht, wer einen zuerst erwischt. Ein Freund des Sohnes von Gaddafi, der einen im BMW nach Tripolis fährt? Gut. Aber die Jungs gestern? Schlecht."
Gestern, erzählt er, kamen zwei Männer, die ungemütlich aussahen und so, als ob sie wüssten, wie man mit einer Waffe umgeht. Sie verhörten eine russische Journalistin. Spionageverdacht. Als man fragte, wer sie seien, meinten sie, so eine Art Sicherheitspolizei. Später sagten sie, dass sie für die Koalition arbeiten würden. Welche Koalition? "Das ist die Frage", sagt Anderson.
"Gasse für Gasse, Haus für Haus" will Gaddafi das Land säubern
In der Stadt weiß keiner etwas von einer Koalition. Und als Ausländer schauen sie einen jetzt komisch an. Die Einheimischen, mit denen man unterwegs ist, bitten einen darum, weiterzugehen und nicht stehenzubleiben. Das Medienzentrum ist leer. Vergessene Unterlagen und die Fahnen der Revolution liegen herum. Im Fernsehen läuft Gaddafis Rede. "Gasse für Gasse, Haus für Haus" wolle er das Land von Aufständischen säubern. Früher lachten die Zuschauer in Bengasi darüber wie über ein gute Satire. Jetzt lachen sie darüber wie über einen schlechten Witz. Im provisorischen Rathaus heißt es, hier sei keiner mehr von der "neuen Regierung". "Die neue Regierung" heißt es, nicht "unsere Regierung". Vor dem Gebäude haben sie vor drei Wochen eine Puppe Gaddafis an einen Mast gehängt, als Symbol des Widerstandes. Doch die Puppe ist nur noch ein formloser Sack, aus dem eine Hand ragt. Das Symbol ist nicht mehr zu erkennen.
Ein Taxifahrer macht vor, wie Gaddafis Bomber in die Stadt kommen. Seine rechte Hand fliegt heran, er spreizt die Finger, haut in die Luft und lässt die Bomben auf die Stadt herunterprasseln. "Bumm, bumm, bumm", ruft er, dann klatscht er in die Hände während der Fahrt, haut auf das Steuerrad und ruft: "Gaddafi kommt, Gaddafi kommt!" Um 17 Uhr sei es soweit, meint er. Wie er heißt? "Warum willst du das wissen?", fragt er zurück, "damit du es Gaddafi sagen kannst, wenn er kommt? Damit du sagen kannst, er soll mich umbringen?"
Es ist der Moment, in dem die Stadt wartet, was passiert. Ob es kippt. Wann es kippt.
Wer ist Freund, wer ist Feind?
Salwa Bugaighis, die Anwältin, hat Angst vor dem Ende. John Lee Anderson erwartet es einfach. Und eine namenlose Frau freut sich vielleicht darüber. Selbst am Telefon spricht sie von sich nur als "die Frau, die Sie gerade getroffen haben". Sie lebt in einer ruhigen, bewachten Wohnsiedlung in der Nähe eines Krankenhauses. Dort ist der Rasen kurz geschnitten, und es gibt bunte Plastikrutschen für die Kinder. Die Menschen hier sprechen gut Englisch, sie waren viel im Ausland unterwegs und haben an der Universität Karriere gemacht.
Wer gut Englisch spreche, viel im Ausland unterwegs war und unter Gaddafi Karriere gemacht habe, sei Mitglied der "Ligan Thauria", heißt es in Bengasi. Übersetzt heißt es "Komitee der Revolution". Einige sagen, es sei eine Art Stasi, sie würden alles aufschreiben, was man Schlechtes über Gaddafi sagen würde. Andere sagen, es seien Killer, verantwortlich für Morde an Oppositionellen im In- und Ausland. Der Mord an Gebril Denali gehöre dazu, 1985 in Bonn, oder die Schüsse in London auf Anti-Gaddafi-Demonstranten, bei der 1984 die Polizistin Yvonne Fletcher starb.
Omar Sudani war damals Diplomat in London und galt lange als einer der Hintermänner. Bis vor kurzem wohnte er noch in der kleinen Siedlung hinter dem Krankenhaus mit dem kurzen Rasen. Und die Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte, ist eine Nachbarin und eine gute Freundin, sagt sie. Sie findet, dass er ein guter Mann sei.
"Aber er ist vor drei Tagen verschleppt worden, ich weiß nicht, ob von unseren Leuten oder von der neuen Regierung", sagt sie. Unsere Leute? Ja, und am ersten Tag habe er noch mit seiner Frau sprechen können und gesagt, dass er an einem sicheren Ort sei. Dann habe er sich nicht mehr gemeldet. Fürchterlich sei es, was gerade in der Stadt passiere. So unübersichtlich, so chaotisch. Und man hoffe, dass man sich wieder unter ruhigeren Umständen wiedersehen könnte.
Bald.