
Erster Weltkrieg: Macron und Merkel Arm in Arm

Weltkriegsgedenken von Macron und Merkel Unvollendete Versöhnung

Toll, was Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron an diesem Wochenende in Paris bieten: Gemeinsam erinnern und gemeinsam führen. Sie treffen sich dort, wo die gegenseitige Demütigung in zwei Weltkriegen am größten war: im wiederhergestellten Speisewagen von Compiègne, nördlich der französischen Hauptstadt. Hier unterwarfen sich die besiegten Deutschen am 11. November vor hundert Jahren und die besiegten Franzosen ihrem Eroberer Adolf Hitler im Juni 1940.
Kein Deutscher, kein Franzose denkt gerne an diesen Speisewagen zurück. Kaum einer besucht seine meist wie leergefegte Gedenkstätte. Umso wichtiger, dass Merkel und Macron dem Wagen seinen unverrückbaren Platz in der brutalen Geschichte beider Länder zurückgeben. Einen Akt der vollständigen Versöhnung sehen sie laut offizieller Darstellung darin, einen Schritt weiter auf dem Pfad zu gehen, den schon ihre Vorgänger Kohl und Mitterrand im Jahr 1984 mit ihrer gemeinsamen Verneigung vor den Gräbern in Verdun gegangen sind. Und mit diesem deutsch-französischen Versöhnungsanspruch im Rücken ziehen dann beide - erst Macron in einer Rede unter dem Pariser Triumphbogen, später Merkel bei der Eröffnung des neugegründeten Pariser Friedensforums - die Lehren aus den Weltkriegen. Sie werden von Menschenrechten sprechen, soziale Rechte inklusive, von der Verpflichtung der Demokratie zu Freiheit und Gleichheit, und Europa zum Champion dieser universalen Lehre erklären. Das ist ihr Job im Zeitalter von Donald Trumps "America first" und Xi Jinpings chinesischem Traum.

Gedenkstätte nahe der nordfranzösischen Stadt Compiègne
Foto: Kay Nietfeld/ dpaDoch Merkel und Macron bewegen sich auf unsicherem Boden. Genau das machen die Hundertjahresfeiern des Weltkriegsendes deutlicher, als es jedem guten Europäer lieb sein kann. Mit ihnen entpuppt sich Europa mal wieder als Elitenprojekt. Nicht nur die Renaissance nationalistischer Bewegungen in Europa deutet das an, sondern, viel wichtiger, die Unvollständigkeit dessen, was uns Merkel und Macron so perfekt vorspielen. Bei genauem Hinsehen klaffen nämlich selbst die Lücken der deutsch-französischen Versöhnung immer noch oder schon wieder weit auseinander.
Macron selbst musste es spüren, als er in dieser Woche die Gedenkstätten des Ersten Weltkriegs entlang des Frontverlaufs besuchte. Geehrt werden dort in der Regel die französischen Soldaten, nicht die deutschen, trotz mancher Ausnahmen. Vor allem aber gibt es wenig gemeinsames Kriegsgedenken auf Bürgerebene. Vor vier Jahren, hundert Jahre nach Kriegsbeginn, machte es die Städtepartnerschaft zwischen Morhange in Lothringen und Feuchtwangen in Bayern möglich, dass Deutsche und Franzosen einer der grausamsten Schlachten des Ersten Weltkriegs gemeinsam gedachten.
Doch das gemeinsame Gedenken blieb einmalig. Als Macron diese Woche vor dem Denkmal in Morhange stand, war wieder nur von den französischen Gefallenen die Rede und Lucien Drommer, ein hochdekorierter französischen Fallschirmspringer aus Lothringen sagte unter großem Bedauern: "Bis wir auch die Deutschen ehren, müssen wohl noch weitere hundert Jahre vergehen". Tags darauf ehrte Macron Frankreichs berühmtesten Schriftsteller des Ersten Weltkriegs, Maurice Genevoix, der Gutes schon damals auch über deutsche Soldaten zu berichten wusste, doch in Deutschland bisher kaum gelesen wird.

Französische und deutsche Flaggen an der Gedenkstätte
Foto: Kay Nietfeld/ dpaDie Versöhnungslücken sind überall, auf beiden Seiten. Und neue Demütigungen folgen. Macron selbst hieb in eine alte Wunde, als er diese Woche vom französischen Marschall Philippe Pétain als "großem Soldaten" sprach. Pétains Geschichte spaltet das deutsch-französische Kriegsgedenken. Der Marschall führte im Zweiten Weltkrieg das französische Kollaborationsregime unter Hitler und trug zum deutschen Massenmord an den Juden bei. Wer sich aber an Auschwitz beteiligt hat, über den kann man in Deutschland nicht mehr als "guten Soldaten" reden - diesem deutschen Konsens widersprach Macron mit seinem Lob Pétains.
Viele Franzosen, denen das mutige Eingeständnis ihres alten Präsidenten Jacques Chirac bezüglich der französischen Beteiligung am Holocaust immer fremd geblieben ist, würden es ihm nachtun. Aber auch wir Deutsche begreifen oft die Sensibilitäten Frankreichs nicht. "Es gibt aus dem zweiten Weltkrieg keine klarere Lehre als die, dass Frankreich den Deutschen machtpolitisch nicht das Wasser reichen kann. Das können nur die USA und Russland", sagte der Pariser Historiker Emmanuel Todd vor vier Jahren. Genau deshalb wollen die Franzosen bisher von dem Speisewagen in Compiègne nichts wissen. Wer in Deutschland aber begreift, wie viel der Gang ihres Präsidenten an diesen Ort den Franzosen zumutet?
Deutsche und Franzosen haben sich an die Versöhnungsgesten ihrer Staats- und Regierungschefs gewöhnt. An ihnen gibt es auch gar nichts auszusetzen. Sie haben die deutsch-französische Freundschaft weltweit zum Symbol des Friedens gemacht. Eine Erfolgsgeschichte. Aber die beiden Völker, immer neue Generationen von Deutschen und Franzosen, müssen sich Versöhnung und Freundschaft stets neu erkämpfen. Sonst bleibt Europa, trotz großer Reden, ein wackliges Elitenprojekt.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, der Schriftsteller Maurice Genevoix sei noch nicht ins Deutsche übersetzt. Tatsächlich sind einige wenige Romane und Essays auch auf deutsch erschienen.