Russlands Reaktion auf MH17-Absturz Verschwörungstheorien statt Antworten

Wer ist schuld am Absturz von Flug MH17? Für Russlands Präsident Putin steht fest: die Regierung in Kiew. Alle Indizien, die dagegen sprechen, spielen in Russland keine Rolle. Die Katastrophe wird das Verhältnis zum Westen weiter verschlechtern.
Russlands Präsident Putin: Einfache Antworten auf die Katastrophe

Russlands Präsident Putin: Einfache Antworten auf die Katastrophe

Foto: MIKHAIL KLIMENTYEV/ AFP

Am Tag nach der Katastrophe zeigt sich Russlands Präsident Wladimir Putin bewegt: In Moskau trifft er sich mit Mitgliedern seines Kabinetts. Der Staatschef bittet seine Minister um eine Minute der Stille, die Regierung trauert um die Opfer von Flug MH17. Dann ruft er zu einer Waffenruhe auf, die Ursache für den Absturz solle in Ruhe untersucht werden.

Ruhe? Dieser Absturz von Flug MH17 am östlichsten Ende der Ostukraine wühlt die Welt auf.

Alle 298 Passagiere kamen ums Leben, darunter sollen 80 Kinder gewesen sein - und auch vier Deutsche. Vermutlich wurde die Boeing abgeschossen. Nach Informationen der USA wahrscheinlich von einer Boden-Luft-Rakete, und zwar aus dem von prorussischen Separatisten besetzten Gebiet. Vieles deutet auf ein "Versehen" der prorussischen Separatisten hin - möglicherweise ausgelöst durch mangelhafte Ausbildung an einem Flugabwehrsystem. Inzwischen sind rund 20 Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) an der Absturzstelle eingetroffen. Sie sollen begonnen haben, das Wrack zu untersuchen - wurden aber laut "Guardian" und "Volkskrant" daran gehindert. Putins Außenminister Sergej Lawrow "schließt kategorisch aus", dass Russland den Flugschreiber der Maschine untersucht. Das hatten die Separatisten Russland angeboten. Moskau will aber unbedingt den Verdacht vermeiden, etwas zu vertuschen.

Kaum ist die Minute der Trauer im Kreml vorbei, geht Putin schon wieder in die Offensive: Den Ministern am Kabinettstisch - und den Bürgern an den Fernsehgeräten - macht er klar, dass es keinen Zweifel daran geben kann, wer schuld ist am Tod der 298 Menschen: die Ukrainer. Weil es nämlich zu dieser Katastrophe nie gekommen wäre, "wenn es keinen Krieg auf dem Gebiet gäbe". So einfach ist das.

Dass viele Indizien sowie abgefangene Funksprüche die Separatisten belasten? Dass es ohne den Zustrom von Kämpfern und Waffen aus Russland keinen Krieg mehr gäbe? Darüber verliert der Kreml-Chef kein Wort.

Tiefe Gräben zwischen Ost und West

Nein, es ist nicht so, dass die Bilder der Tragödie Russland kalt lassen. Im Fernsehen und im Internet gibt es kaum ein anderes Thema. Doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass der Schock die Gräben, die sich in der Ukraine-Krise zwischen Ost und West aufgetan haben, nur weiter vertiefen wird.

Fotostrecke

Absturz von Malaysia Airlines MH17: Trümmer, Opfer, Folgen

Foto: MAXIM ZMEYEV/ REUTERS

Oleg Zarjow ist ein Vertreter des politischen Flügels der prorussischen Separatisten in der Ostukraine. Er hat als Abgeordneter im Parlament in Kiew gesessen und wollte als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen antreten. Er kann gut reden.

Das macht ihn zu einem beliebten Interviewpartner russischer Medien, denn Zarjow sagt, was man in Moskau gerne hört. Als er nach dem Schicksal der Boeing 777 befragt wird, antwortet Zarjow mit einer Gegenfrage: "Wer profitiert davon?"

Wem nutzt das?

Diese floskelhafte Frage ist - seit Jahren schon - in Russland das schlagkräftigste Argument, um eine Debatte in eine Richtung zu lenken, sei es in politischen Talkshows im Staatsfernsehen oder im privaten Streit mit russischen Bekannten. Die Frage ist perfide. Sie beendet jede sachliche Diskussion, weil die Antwort darauf nicht von Fakten abhängt, sondern nur vom Standpunkt des Betrachters.

Cui bono - wem nutzt das? Die Antworten, die Russlands Medien geben, sind eindeutig:

  • den Ukrainern! Weil sie die Schuld den Russen in die Schuhe schieben wollen.
  • den USA! Weil sie die Europäer auf eine harte Linie gegen die Russen zwingen wollen. Der Abschuss des Zivilflugzeugs sei Washingtons "Plan B", nachdem die EU bei schärferen Sanktionen nicht mitmachen wollte.

So kann man es jetzt in den Analysen einflussreicher russischer Politologen lesen.

Dabei belasten die meisten Hinweise die Rebellen der selbsternannten "Volksrepublik Donezk": Ort und Zeit der Katastrophe fallen zusammen mit Jubelmeldungen der Separatisten über den Abschuss eines Flugzeugs. Die Separatisten behaupten dagegen, eine ukrainische Rakete habe die Maschine zerrissen. Auch wenn sich das wohl endgültig erst mit einer sorgfältigen Untersuchung ausschließen lassen wird: Beweise können die Separatisten für ihre Behauptung nicht vorweisen.

Ein Faible für Verschwörungstheorien

Tausendfach verbreiten sich im russischen Internet Meldungen, ein spanischer Fluglotse in Diensten der Luftüberwachung in Kiew habe ukrainische Jagdflugzeuge in der Nähe des Passagierjets geortet. Das ist zwar falsch, denn bei Flight Control in Kiew arbeiten nur Ukrainer. Viele Russen glauben es aber gern.

Russia Today, der Auslandssender des Kreml, meldet gar, die Luftwaffe der Ukraine habe in Wahrheit die Maschine von Präsident Putin abschießen wollen, aber das falsche Flugzeug beschossen.

Das Faible für Verschwörungstheorien ist keine russische Besonderheit, auch im Westen glauben viele, die Anschläge vom 11. September 2001 habe in Wahrheit die CIA orchestriert. In Russland aber werden sie kultiviert: von den großen TV-Sendern und vom politischen Establishment.

Beispiele? Bitte schön:

  • Als im Februar 2013 über Tscheljabinsk ein Meteorit niederging, sprach Wladimir Schirnowski, ehemaliger Vizesprecher des Parlaments und Chef der National-Liberalen, von einer "kosmischen Waffe" der USA.
  • Präsident Putins Wirtschaftsberater Sergej Glasjew ist überzeugt, dass sich die amerikanische Notenbank Federal Reserve gegen Moskau verschworen habe und massenhaft Dollar drucke - nur um damit Russlands Konzerne aufzukaufen.
  • Die Amerikaner sammeln DNA-Material von Russen, um "biologische Waffen" gegen sie zu entwickeln. Das glaubt Putins Inlandsgeheimdienst FSB, der "Kommersant" hat darüber ausführlich berichtet.
  • Der wegen Korruptionsvorwürfen geschasste Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow macht für seinen Sturz die CIA verantwortlich, seine Armeereform sei dem US-Geheimdienst nämlich ein Dorn im Auge gewesen.

Am Freitagabend meldete der Staatssender Rossija 1, die Passagiere an Bord von MH17 seien bereits vor dem Absturz nicht mehr am Leben gewesen. Es handelt sich um ein gegen Russland gerichtetes Komplott, soll das heißen.

Die Fakten über MH17 gehen in Russland im Strudel der Verschwörungstheorien unter.

Mitarbeit: Luzia Tschirky
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten