Ohne Maske in Österreich
Sind die zu lax oder bin ich ein Piefke?
Seit die Wiener Regierung die Maskenpflicht in Supermärkten und Restaurants gestrichen hat, tragen nur noch wenige Menschen einen Mund-Nasen-Schutz. Außer unser Autor, der sich fragt, ob sich das nächste Ischgl anbahnt - oder er paranoid ist.
Und plötzlich werden wir Maskenträger wieder wie Aliens beäugt beim Einkaufen. Ein Hofer-Discountmarkt in Hard am Bodensee, 8,3 Kilometer jenseits der Grenze zu Deutschland. Wir brauchen Milch und Joghurt fürs Frühstück, unser erstes hier in Österreich. Am Kühlregal weicht eine Frau zwei Schritte zurück, als sie mich mit dem Stück Stoff vor dem Gesicht erblickt. Und auch an der Kasse halten die anderen Abstand: nur um mich herum, wohlgemerkt. Ich bin ja der einzige Exot hier.
So wie am ersten Morgen ergeht es unserer Familie ständig in den folgenden zwei Wochen unserer Österreich-Reise. Ob in Vorarlberg, Tirol, Kärnten oder in der Steiermark: In Supermärkten und Geschäften sind wir Fremden oft die einzigen mit Mund-Nasen-Schutz. Bei rund zwei Dutzend Einkäufen hier haben wir nirgends mehr als zwei andere Maskenträger gesehen.
Die allermeisten gehen oben ohne, seitdem die Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz am 15. Juni die Maskenpflicht im Handel, Tourismus und in Schulen gestrichen hat. Stattdessen, so erklärte damals der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober, "sollte bewusst in Eigenverantwortung gehandelt werden".
Von Eigenverantwortung ist ständig die Rede, wenn Corona-Maßnahmen gelockert werden. Auch in der Bundesrepublik. Bei der ebenso nervigen wie schützenden Maske, dem Symbol der neuen Normalität, vertrauen die deutschen Entscheider noch nicht auf die Vernunft ihrer Bürger. Doch einige Bundesländer überlegen bereits, wo und wann die Maskenpflicht gelockert werden könnte. Kritiker mahnen: Es dürfe nicht der falsche Eindruck entstehen, die Pandemie wäre vorbei.
Just diesen Eindruck haben wir in Österreich immer wieder. Im steirischen Landgasthof, dessen Inhaber uns stolz berichtet, er habe in seiner Tennishalle ein Formel-1-Public-Viewing veranstaltet. Im Grazer Nachtleben, wo draußen vor einer Bar die Tische eng an eng stehen und drinnen einige Lokale vollgepackt mit fröhlichen Menschen sind.
Die Infektionszahlen in Österreich steigen wieder
Auf der Sommeralm, wo ein Dutzend gelb gekleideter Männer mit einer aufgeblasenen Sexpuppe Junggesellenabschied feiert. Im Pool des Dorfschwimmbades, wo Kinder wie auch Erwachsene durcheinander planschen und prusten wie in jedem ganz gewöhnlichen Sommer. Nirgends mussten wir uns auf eine Besucherliste eintragen oder unsere Daten zur Kontaktnachverfolgung hinterlassen.
Bahnt sich hier das nächste Ischgl an? Oder sind wir bloß paranoide Spießer? Typische Piefke, die wie üblich alles besser wissen? Das fragen wir uns oft auf dieser Reise. Schließlich hat Österreich das Virus schnell und gut in den Griff bekommen. Früher als viele andere hat die Regierung in Wien Schulen geschlossen, Ausgangssperren und Abstandsregeln verhängt.
Erst Tage später sind deutsche Politiker mit teils auffallend ähnlichen Maßnahmen nachgezogen. Auch bei der Einführung der Maskenpflicht im öffentlichen Leben waren die Österreicher Vorreiter in Europa. Und die Anzahl der positiven Tests (rund 18.400) sowie der Toten (706) ist niedriger als in Deutschland - selbst im Verhältnis zur Einwohnerzahl.
Doch seit die Masken im Handel und Tourismus fallen - im Gesundheitswesen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und bei körpernahen Dienstleistungen sind sie weiter obligatorisch - geht Österreichs Infektionskurve hoch: Vergangene Woche wurden an drei Tagen je mehr als hundert Menschen positiv getestet - das ist seit April nicht mehr passiert.
"Wir beobachten die Lockerheit mit Sorge"
Elisabeth Puchhammer-Stöckl, Leiterin des Zentrums für Virologie an der Medizinischen Universität Wien
Auf Deutschlands gut neunmal so große Bevölkerung umgerechnet, entspräche dies hierzulande um die tausend Fälle pro Tag. Österreichs mittlere Reproduktionszahl R ist laut der staatlichen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) in der zweiten Junihälfte von 1,05 auf 1,37 gestiegen. Und die Zahl der aktiven Infektionen ist seit Ende des Maskenzwangs in Handel und Tourismus von unter 300 auf mehr als 1000 nach oben geschossen.
"Wir beobachten die Lockerheit mit Sorge", sagt Elisabeth Puchhammer-Stöckl am Telefon, die Leiterin des Zentrums für Virologie an der Medizinischen Universität Wien. "Die Achtsamkeit ist bei vielen Menschen zuletzt verloren gegangen." Puchhammer-Stöckl ist eine der führenden Virologinnen des Landes und hat die Regierung in der Krise immer wieder beraten. "Dass die Maskenpflicht gefallen ist, war überraschend für uns", sagt die Virologin. Sie hat für den Beschluss der Politiker nur eine Erklärung: "Man versucht, über den Sommer so viel Normalität zu ermöglichen, wie es irgendwie geht."
Allerdings zeige der neue Corona-Alltag: Mit der Eigenverantwortung ist es nicht weit her. "Ich glaube, dass man ohne Maske schnell vergisst, in welcher Lage wir noch immer sind", sagt Puchhammer-Stöckl. Umso genauer beobachten die Virologen nun die steigenden Fallzahlen. Und die Ausbrüche, die sich neuerdings häufen: etwa rund um eine freikirchliche Pfingstgemeinde in Oberösterreich, ein Bauunternehmen in der Steiermark oder auf Schlachthöfen.
Solange die meisten Ansteckungen auf solche Cluster zurückzuführen sind und die Gesundheitsämter die Kontakte nachverfolgen können, sei das Infektionsgeschehen beherrschbar, meint Puchhammer-Stöckl. In manchen Bundesländern gebe es zurzeit nur eine Handvoll Fälle. "Aber das kann schnell umschlagen."
Auch die verantwortlichen Politiker werden wieder misstrauischer. Nachdem mehrere Rückkehrer von Balkanreisen positiv getestet wurden, hat Wien eine Reisewarnung für neun Länder im Westbalkan und Südosteuropa verhängt. Und das Gesundheitsministerium erklärt auf Anfrage: "Nachdem wir in Österreich in den letzten Wochen - vielleicht aufgrund der guten aktuellen Zahlen - eine deutliche Abnahme des Risikobewusstseins verzeichnen müssen, verstärkt das Innenministerium seit vergangenem Wochenende die Kontrolltätigkeit durch die Exekutive."
Eine erneute landesweite Pflicht zum Mund-Nasen-Schutz in Handel und Restaurants will Gesundheitsminister Anschober tunlichst vermeiden. "Bisher gibt es keine Hinweise auf Auswirkungen auf das Ende der MNS-Pflicht in Supermärkten", schreibt sein Ministerium. Aber: "Sollten sich in Zukunft Auswirkungen zeigen, kann die MNS-Pflicht wieder eingeführt werden."
In Oberösterreich ist es so weit. Hier, wo sich zuletzt mehr als 400 aktive Fälle angehäuft haben, ist der Mund-Nasen-Schutz von Donnerstag wieder obligatorisch: im gesamten Einzelhandel sowie für Mitarbeiter der Gastronomie. Und in einigen Orten Kärntens muss von Freitag an abends eine Maske getragen werden.
Bei uns in der Steiermark ist von Maskenpflicht noch keine Rede. Wir werden die schirchen (Österreichisch für hässlich; Anmerkung der Red.) Dinger trotzdem weiter überstreifen, sobald wir einen Supermarkt betreten. Und drinnen schweigen, um uns nicht als Piefke zu outen.