
Menschenrechte Malaysia macht Jagd auf Homosexuelle
Anwar Ibrahim ist ein bekannter Mann in Malaysia. Er war Finanzminister und stellvertretender Premier. Jetzt führt der 64-Jährige die Opposition an. Menschenrechtsaktivisten nennen ihn die "Stimme der Demokratie" in ihrem Land. Bei den kommenden Wahlen hätte er durchaus Chancen, Regierungschef Najib Razak zu schlagen - wenn er nicht wegen angeblicher Homosexualität vor Gericht stünde, zum zweiten Mal in seiner langen politischen Karriere. Das Urteil soll am 9. Januar 2012 verkündet werden. Anwar rechnet mit "dem Schlimmsten" - nach malaiischen Gesetzen eine Gefängnisstrafe von bis zu 20 Jahren.
In den sechs Tagen vor der Urteilsverkündung will er nun noch einmal wie ein Wirbelwind durch neun malaiische Bundesländer touren. "Eine Menge Leute beten dafür, dass ich freigesprochen werde", sagt er. "Und ich will allen beteuern, dass ich unschuldig bin." Er will die Menschen davon überzeugen, "dass es bei der Anklage nur darum geht, meine Kandidatur für die Wahlen zu verhindern".
Denn Homosexualität wird in Malaysias muslimischer Gesellschaft immer noch geächtet und von der Justiz erbarmungslos verfolgt - allein der Verdacht, wie das Beispiel Anwar Ibrahim zeigt, kann zur politischen Waffe werden. Der Oppositionelle war schon einmal wegen angeblicher Homosexualität in zweifelhaften Gerichtsverfahren zu Fall gebracht worden: Der damalige Ministerpräsident Mahathir Bin Mohamad, als dessen Nachfolger Anwar bereits offen gehandelt wurde, entließ ihn 1998 völlig überraschend aus seinem Amt als Vize-Premier. Bis dahin hatte der unkonventionelle Intellektuelle als kommender Star in Malaysias Politik gegolten.
Doch stattdessen wurde er in zwei umstrittenen Prozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt: 1999 zu sechs Jahren wegen angeblicher Korruption. Ein Jahr später erhielt er eine zusätzliche Freiheitsstrafe von neun Jahren, weil er seinen Chauffeur zu homosexuellen Handlungen gezwungen haben sollte. Doch 2004 wurde das Urteil vom Obersten Gerichtshof aufgehoben, und der Berufungsrichter befand: "Anwar hätte gleich freigesprochen werden müssen." Denn das Verfahren war mehr als fragwürdig: Das Haus, in dem Anwar seinen Fahrer angeblich zum Sex gezwungen haben sollte, war zum Zeitpunkt der "Tat" noch gar nicht gebaut. Ein Belastungszeuge war, wie er im Berufungsverfahren zugab, unter Folter zu einer Falschaussage gezwungen worden.
Stipendium gegen Falschaussage
Auch diesmal spricht alles dafür, dass der populäre Oppositionspolitiker von einer willfährigen Justiz mit fingierten Beweisen mundtot gemacht werden soll. Der Hauptbelastungszeuge ist Mohd Saiful, ein junger Mann, den Anwar 2008 als Wahlkampfhelfer angeheuert hatte. Anwar war es zu dem Zeitpunkt gelungen, die Opposition kurz vor landesweiten Wahlen in Malaysia zu einen. Sie drohte der Regierungspartei "United Malays National Organisation" (UMNO) gefährlich zu werden. Der neue Mitarbeiter Anwars zeigte seinen Chef nach bewährtem Muster an: Anwar habe ihn zu gleichgeschlechtlichem Sex gezwungen, hieß wiederum der Vorwurf.
Seinem Kontrahenten Abdullah Ahmad Badawi nützte es jedoch nicht viel. Sein Regierungsbündnis verlor zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit des Landes 1963 die Zwei-Drittel-Mehrheit und in fünf von 13 Bundesstaaten sogar die Mehrheit. Die Oppositionsparteien gewannen knapp die Hälfte der Stimmen. Anwar zog ins Parlament ein.
Doch noch war die Sache mit der Anzeige von Mohd Saiful nicht ausgestanden. Es gibt nach übereinstimmenden Presseberichten zwar keinerlei Beweise für die Behauptung des angeblichen Opfers. Allerdings habe sich herausgestellt, dass Mohd Saiful, zwei Tage bevor er die Anzeige gegen Anwar erstattet hatte, mit dem heutigen Premierminister Najib Razak zusammengetroffen war. Dabei soll Najib mit dem Wahlkampfhelfer seines politischen Gegners über ein mögliches Stipendium gesprochen haben. Dennoch wurde im Februar 2010 der Prozess eröffnet. Kurz nachdem das Urteil am 9. Januar verkündet worden ist, soll es nach Medienspekulationen vorgezogene Neuwahlen geben. Wenn Najib Razaks Drehbuch aufgeht ohne seinen Herausforderer Anwar.
Gnadenlose Treibjagd auf Homosexuelle
Denn Malaysia gehört zu den 76 Staaten, in denen Homosexualität immer noch unter Strafe steht. Nach Paragraf 377 des malaiischen Strafgesetzbuches sind gleichgeschlechtliche Handlungen strafbar, selbst wenn sie einvernehmlich geschehen. 20 Jahre Haft sind die Höchststrafe. Stockschläge werden den Delinquenten von ihren Richtern meist noch zusätzlich verordnet.
Nicht nur Politiker wie Anwar Ibrahim sind diesem gnadenlosen Gesetz zum Opfer gefallen. In den vergangenen Jahren wurde eine regelrechte Treibjagd auf Homosexuelle veranstaltet, die Gesetze wurden immer wieder verschärft. Seit 1994 ist der Auftritt von Schwulen und Lesben in den staatlich kontrollierten Medien verboten. 2007 ordnete der damalige Regierungschef Mahathir Bin Mohamad an, dass Homosexuelle keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden dürfen. Das Staatsfernsehen zeigt Dokumentationen aus der Schwulenszene, um die "Widernatürlichkeit" gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu demonstrieren. Immer wieder werden in Clubs, Fitnesscentern und Massage-Salons in Kuala Lumpur, wo es trotz aller Verfolgung eine lebhafte Schwulen- und Lesbenszene gibt, Razzien durchgeführt.
57 Jugendliche, die ihren Lehrern als "weibisch" aufgefallen waren, wurden im April dieses Jahres in ein Umerziehungslager gesteckt. Der US-Rocker Adam Lambert nahm im Oktober 2010 nach Massenprotesten von Mitgliedern der Regierungspartei "aus Respekt vor der Regierung" an seinem Programm mit homosexuellen Szenen "ein paar kleine Korrekturen" vor. Und Lady Gagas "Born This Way" darf in Malaysia nur in staatlich zensierter Form gespielt werden.
Wo Kokosmilch und Zitronen gegen Homosexualität "helfen"
Im November verbot die Regierung sogar das schwul-lesbische Festival "Seksualiti Merdeka" (Sexuelle Freiheit), das seit 2008 jährlich in Kuala Lumpur rund 1500 Teilnehmer angelockt hatte. Begründung für das Verbot: Die Veranstaltung bedrohe die nationale Sicherheit. Festival-Organisator Pang Khee Teik klagt: "Die Entscheidung der Polizei ist ein Symptom für den systematischen Zusammenbruch von Menschenrechten in diesem Land."
Doch es kommt noch ärger. In den Bundesstaaten Penang und Malacca sollen die Gesetze drastisch verschärft werden: Homosexuelle, Bisexuelle und Transsexuelle sollen dort künftig nicht nur nach Paragraf 377 des Strafgesetzbuches bestraft werden. Ihnen droht zusätzlich die Scharia, das islamische Recht. Selbst heterosexuelle "inaktive Unterstützer", die für die Rechte von Schwulen und Lesben eintreten, sollen in Malaysia künftig bestraft werden können.
Dabei stützen sich Malaysias Machthaber durchaus auf Volkes Willen. Gerade auf dem Land werden Homosexuelle gnadenlos verfolgt, verfemt und verleumdet. Als der malaiische Pfarrer Boon Lin Ngeo im August in den USA seinen Lebenspartner heiratete und dies im Internet kundtat, ging ein Sturm der Entrüstung durch Malaysia, immer wieder angefacht durch Regierung und Geistlichkeit. Auch der malaiische Student Arrif Alfian Rosli, der im Dezember in Irland seinen Freund geheiratet hat, wurde in Internet-Foren und bei Protestversammlungen in seiner Heimat beschimpft und bedroht - sogar mit dem Tode. Der staatliche Mineralölkonzern Petronas forderte von den Eltern des Studenten das Stipendium zurück, das er ihm gezahlt hatte.
Was nur hat Schwulsein mit Schweinegrippe zu tun?
Universitätsprofessor Palaniappan dagegen durfte in der staatlichen Nachrichtenagentur Bernama sogar die krude Theorie verkünden, dass Onanieren und homosexueller Verkehr zu Schweinegrippe führt. "Nach solchen Praktiken," erklärt er voll Überzeugung, "wird der Körper übersäuert und ein leichtes Ziel für die Schweinegrippe." Hetero-Sex dagegen sei unschädlich. Der Erfinder eines "ökologischen Heilsystems" propagiert als "Gegenmittel" gegen Homosexualität und Schweinegrippe Kokosmilch, Pomelos, Orangen und Zitronen. 33 Jahre habe er an der Entwicklung dieses Systems gearbeitet, verkündete der Professor stolz.
In diesem Klima der Verunsicherung und Verfolgung erschien es der Schwulen- und Lesbenszene Malaysias zunächst wie ein Wunder, als im März dieses Jahres ein homosexueller Liebesfilm in die Kinos des Landes kam: "...Dalam Botol" (...in einer Flasche). Zwar musste der Film vor seiner Uraufführung auf Druck der staatlichen Zensur drastisch entschärft und aus dem Ursprungstitel der Begriff "Anu" (Penis) gestrichen werden. Der Ansturm auf die Kinos war dennoch so groß, dass der Streifen in nur fünf Tagen seine Kosten wieder einspielte und in die Gewinnzone kam.
Sein Inhalt ist allerdings eher schwulenfeindlich: Der Film schildert die Geschichte des jungen, schwulen Liebespaars Rubidin und Ghaus. Wegen des Verbots der Homosexualität lässt Rubidin aus Liebe zu seinem Partner eine Geschlechtsumwandlung an sich vornehmen, wird zu "Ruby". Doch nun verschmäht Ghaus seine neue "Geliebte", verlässt sie - und der Liebesfilm wird zum Lehrstück: Die enttäuschte "Ruby" verwandelt sich flugs wieder in einen Mann zurück, verliebt sich in eine Frau und wird in der neuen Beziehung nun endlich glücklich - Happy End à la Malaysia.