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Syriens Protesthochburg Homs: "Mikrokosmos der Gewalt"

Foto: DPA/ Shaam News Network

Menschenrechts-Bericht aus Syrien "Sie haben ihm Fingernägel ausgerissen"

Die syrische Protesthochburg Homs versinkt in Gewalt - das belegt jetzt erstmals eine Studie von Human Rights Watch. Bewohner der Stadt berichten von grausamer Folter, Erschießungen, willkürlichen Verhaftungen. Die Organisation fordert ein internationales Eingreifen gegen das Assad-Regime.

Kairo - Beim Vorgehen syrischer Truppen gegen Zivilisten in der Unruheprovinz Homs ist es nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) vermutlich zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen. Es gebe etliche und sehr deutliche Hinweise, dass die Sicherheitskräfte ohne Vorwarnung auf Demonstranten geschossen hätten, es gebe willkürliche Festnahmen, Folter, Menschen würden einfach verschwinden. Das Ausmaß des Vorgehens lasse darauf schließen, dass die Regierung dies stütze.

Der Bericht, der am Freitag veröffentlicht wurde und 63 Seiten lang ist, konzentriert sich auf den Zeitraum von Mitte April bis Ende August. Während dieser Zeit seien im Regierungsbezirk Homs mindestens 587 Zivilpersonen getötet worden, heißt es dort. Die Gewalt sei aber vor allem im September erneut eskaliert, so dass allein in diesem Monat 207 weitere Tote zu beklagen seien.

Entstanden ist die Untersuchung auf Grundlage der Aussagen von 114 Bewohnern von Homs und 29 Interviews mit syrischen Aktivisten, die auf Video aufgenommen wurden. Das Regime von Präsident Baschar al-Assad gewährt weder Journalisten noch Menschenrechtsorganisationen Zugang zum Land. Daher wurden die Befragungen mit geflüchteten Syrern im Ausland oder per Telefon geführt. Um eine größtmögliche Absicherung der Aussagen zu gewährleisten, haben die Menschenrechtsaktivisten nur Vorfälle aufgenommen, die von mehreren Quellen gestützt werden.

In einer Statistik hat Human Rights Watch die dokumentierten Todesfälle festgehalten

In einer Statistik hat Human Rights Watch die dokumentierten Todesfälle festgehalten

Foto: SPIEGEL ONLINE

Ein Beispiel stammt vom 1. August, als Sicherheitskräfte eine Gruppe von Demonstranten vor einer Moschee in Homs angriffen, drei Menschen kamen dabei ums Leben:

"Als die Leute aus der Moschee kamen, tauchten zwei Busse mit etwa 50 grün gekleideten Sicherheitskräften auf. (...) Sie waren mit Elektroschockern bewaffnet und warfen sofort drei Tränengasgranaten und Schallgranaten, nachdem sie den Bus verlassen hatten. Die meisten Demonstranten liefen weg, doch rund 200 blieben da. Dann griffen die Sicherheitskräfte an. Sie haben scharfe Munition benutzt. Die Demonstranten haben in den Seitenstraßen Schutz gesucht. Ein Mann wurde von einer Kugel am Oberschenkel getroffen und von einer weiteren in die Hoden. Wir wissen das, weil wir uns um ihn gekümmert und ihn ins Krankenhaus gebracht haben, aber es waren noch sehr viele andere."

Ein Bericht schildert eine Beerdigung am 19. Juli in Homs:

"Als wir die Toten begruben, hörte ich plötzlich Schüsse. Vier Pick-ups mit Uniformierten mit Helmen und Körperschutz kamen angefahren, sie schossen mit automatischen Waffen auf die Leute (...). Wir fingen an wegzulaufen. Die Mutter und der Bruder eines der Toten wurden direkt neben seinem Sarg getötet. Mein Cousin versuchte noch, den Leichnam der Mutter beiseitezuziehen. Plötzlich fiel er hin, aber ich habe zu diesem Zeitpunkt nicht gemerkt, dass er getroffen worden war. (...)"

Ein 66 Jahre alter Mann berichtet von einer Massenfestnahme am 17. Mai:

"(...) Etwa um 9.30 Uhr stürmten rund 20 Männer von Armee und Sicherheitsdienst mein Haus und haben mich im Schlafanzug ins Krankenhaus gebracht, wo sie eine provisorische Haftanstalt eingerichtet hatten. Ich habe gesehen, dass drei Kinder mit uns eingesperrt worden sind. Sie waren um die 13 Jahre alt. Sie haben uns in enge Zellen gesperrt und uns mehrfach täglich geschlagen. Mein Alter hat mich da ein bisschen geschützt, aber sie haben mich trotzdem geschlagen, ins Gesicht, auf den Rücken, und sie haben mich zweimal mit einem Elektroschocker malträtiert. Sieben Tage später haben sie mich laufenlassen."

Die Untersuchung zitiert weitere ehemalige Häftlinge, die von Folterungen berichten. Unter anderem hätten Sicherheitskräfte den Wehrlosen glühende Metallstäbe auf die Haut gedrückt, auch am Unterleib. Die Häftlinge seien an den Händen aufgehängt und geschlagen worden, teils wurden sie Elektroschocks ausgesetzt. Ein Gefangener erzählt am 30. Juli, wie brutal einer seiner Mithäftlinge behandelt wurde:

"(...) Als sie ihn zwei Stunden später wieder in die Zelle brachten, war er halbtot. (...) Er hatte schwarz-rote Spuren von den Elektroschocks an Händen, Beinen und Rücken. Sie haben ihm Fingernägel ausgerissen. Die Verhörleiter haben außerdem eine Bohrmaschine benutzt, er hatte Bohrlöcher in den Händen, Hüften, Knien und an den Füßen. Er blutete sehr stark. Wir haben die Wachleute um medizinische Hilfe gebeten, aber sie haben das abgelehnt. Kurz danach wurde ich in eine andere Anlage verlegt, ich weiß nicht, ob er überlebt hat."

Auch die Attacken der syrischen Armee werden in dem Bericht beschrieben. Immer wieder heißt es, bei groß angelegten Militäroperationen seien schwere Maschinengewehre, darunter auch Flugabwehrkanonen, eingesetzt worden.

Ein Augenzeuge schildert Angriffe der Armee vom 10. und 11. August in Homs:

"Der Krach (des Gefechtslärms) war enorm. (...) Polizei und Soldaten haben die Gegend umzingelt. Es gab keine Kommunikationsmöglichkeiten - kein Telefon, kein Handyempfang, kein Internet. Die Sicherheitskräfte haben nach Männern von einer Liste der Gesuchten gefahndet. Wir leben hier wie im Krieg. Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen. Schüsse und Feuer kamen von allen Seiten, von gestern bis heute."

Homs sei "ein Mikrokosmos der Brutalität des syrischen Regimes", sagte Sarah Leah Whitson, Nahostdirektorin der Menschenrechtsorganisation, am Freitag. Die Organisation rief die Arabische Liga auf, Syriens Mitgliedschaft vorübergehend auszusetzen. Wegen des Blutvergießens, das trotz des von ihr ausgehandelten Friedensplans anhält, hat die Arabische Liga für Samstag eine Sondersitzung einberufen.

Der Bericht von Human Rights Watch räumt auch ein, dass Demonstranten und Deserteure der syrischen Streitkräfte zu den Waffen gegriffen haben. "Gewalt durch Demonstranten und Deserteure muss weiter untersucht werden", heißt es in dem Bericht. Allerdings rechtfertige sie nicht den unverhältnismäßigen und systematischen Gebrauch tödlicher Gewalt durch das Regime.

Nach dem offensichtlichen Scheitern des Friedensplans der Arabischen Liga sieht Human Rights Watch diese in der Pflicht. "Die Arabische Liga muss Präsident Assad mitteilen, dass eine Missachtung ihres Übereinkommens Konsequenzen hat und dass es jetzt ein Vorgehen des Sicherheitsrats zum Ende des Blutvergießens unterstützt", sagte Sprecherin Whitson.

ffr/dpa/dapd/Reuters
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