Menschenrechtsbericht Amnesty wirft libyschen Milizen tödliche Folter vor

Häftlinge in Libyen: Gefangene aus Schwarzafrika werden besonders häufig gefoltert
Foto: ISMAIL ZITOUNY/ REUTERSHamburg/London - Er war in seiner Wohnung in Sirt, als die libyschen Milizen am 9. Oktober vergangenen Jahres kamen und ihn gefangennahmen. Sie verschleppten ihn in ein Gefängnis in Misurata. Seitdem wurde der 26-Jährige immer wieder geschlagen, der 19. Januar war für den Zigarettenverkäufer bisher der schlimmste Tag - ein Verhör, um ihn herum standen mehrere Leute: "Einer nahm eine Glasflasche und schlug sie auf meinen Kopf. Dann zwangen sie mich dazu, mich auf den Boden zu setzen und fesselten meine Hände. Sie traten gegen meinen Kopf, schlugen mit einem Schlauch, mit einem Holzknüppel und einem Kabel auf meinen ganzen Körper ein. Sie wollten Informationen über Leute, die ich gar nicht kenne."
Die Aussage des 26-Jährigen findet sich in einem Bericht von Amnesty International, der jetzt in London veröffentlicht wurde. Ein anderer Gefangener berichtet darin, dass er mit Elektroschocks gefoltert wurde. "Zwei Stromkabel steckten an meine Zehen", sechs- oder siebenmal seien ihm Stromstöße verpasst worden.
Die Menschenrechtsorganisation hatte zuletzt eine Delegation in das nordafrikanische Land geschickt. Die Amnesty-Mitarbeiter suchten im Januar und Februar unter anderem elf Gefängnisse in Zentral- und Westlibyen auf - die Bilanz ihrer Reise ist erschreckend: Bewaffnete Milizen in Libyen haben demnach seit vergangenem September in mindestens zwölf Fällen ihre Gefangenen zu Tode gefoltert, erklärte Amnesty International.
Die Leichname der Todesopfer seien von Wunden und blauen Flecken bedeckt gewesen. Mehreren Opfern seien Zeh- und Fingernägel gezogen worden. Die Häftlinge seien noch in den Gefängnissen oder wenig später in Krankenhäusern gestorben. Die Menschenrechtsorganisation hat demnach mit Ärzten gesprochen, die die Fälle kennen beziehungsweise die entsprechenden forensischen Berichte eingesehen.
Amnesty International zufolge foltern die Milizen vor allem mutmaßliche Anhänger des im vergangenen Oktober getöteten Machthabers Muammar al-Gaddafi. Mehrere Gefangene berichteten, sie hätten die ihnen vorgeworfenen Verbrechen gestanden, nur um die Folter zu beenden.
Gesetzlose Milizen - eine Gefahr für die Stabilität im Land
Carsten Jürgensen, Mitglied der Amnesty-Delegation, kritisierte, dass die Milizen "außer Kontrolle" seien. Vor einem Jahr hätten die Libyer "ihr Leben riskiert, um Gerechtigkeit zu fordern". Heute sei diese Gerechtigkeit "in großer Gefahr: durch gesetzlose bewaffnete Milizen, die auf den Menschenrechten herumtrampeln, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden".
Die Milizen haben in dem Land weiterhin großen Einfluss und operieren häufig unabhängig vom Nationalen Übergangsrat. Die Milizen würden in dem Land von vielen als Helden verehrt, weil sie den Kampf gegen Gaddafi führten, inzwischen seien sie aber eine Gefahr für die Stabilität des Landes, so Amnesty. Viele Milizen würden sich weigern, ihre Waffen abzugeben, immer wieder komme es bei Zusammenstößen rivalisierender Milizen zu blutiger Gewalt.
Zuletzt hatte Human Rights Watch schwere Vorwürfe gegen die neuen Machthaber in Libyen erhoben. Demnach wurde der ehemalige libysche Botschafter in Frankreich in der Haft gefoltert und getötet.
Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hatte berichtet, dass Folter in dem Land weiter zum Alltag gehört. Die Helfer hatten nach eigenen Angaben in Internierungslagern der Stadt Misurata Verletzungen durch Folter bei insgesamt 115 Gefangenen festgestellt.
Besonders häufig sind offenbar Häftlinge aus Schwarzafrika von Misshandlungen betroffen. Sie werden besonders häufig beschuldigt, während des Aufstands als Söldner auf Seiten Gaddafis gekämpft zu haben. Dem libyschen Übergangsrat wurde deshalb in der Vergangenheit mehrfach vorgeworfen, beim Wiederaufbau von Polizei und Justiz zu zögerlich zu sein. Im Juni soll das Land das erste Parlament nach dem Ende der Gaddafi-Herrschaft wählen.